Zwischen Profit und Moral - Junge Assistenzärzte unter Druck

Viele Medizinstudenten legen bei ihrer Examensfeier eine moderne Form des hippokratischen Eides ab, das Genfer Gelöbnis. Damit verpflichten sie sich, die Gesundheit ihrer Patienten als oberstes Anliegen zu betrachten. Doch im Berufsalltag merken sie schnell: Kliniken sind Wirtschaftsunternehmen, sie werden effizient geführt und sollen teilweise hohe Renditen erwirtschaften. Für die Ausbildung der Assistenzärzte hat das Folgen: sie gelten oft als billige "Ersatz-Ärzte", türmen Überstunden auf, Nachweise für die Facharztausbildung werden manipuliert.

Anmoderation: Jeder fünfte Assistenzarzt in einer Klinik arbeitet laut einer Studie mehr als 60 Stunden pro Woche. Die Folgen kann man sich vorstellen: Übermüdung, Überlastung, Unkonzentriertheit - ein hohes Risiko für die Patienten. Viele Jung-Ärzte haben den Eindruck, als billige Arbeitskräfte missbraucht zu werden. Denn Krankenhäuser funktionieren mittlerweile eher wie eine Fabrik. Das Wohl des Patienten scheint oft weniger im Vordergrund zu stehen. Erstmals packen bei uns jetzt Assistenzärzte aus und berichten über den ungeheuren Druck, der auf sie ausgeübt wird. Ursel Sieber und Robin Avram.

Abschlussfeier der Universität Münster. Frisch gebackene Ärzte sprechen gemeinsam den Hippokratischen Eid in seiner modernen Form:

 "Ich gelobe dies feierlich, aus freien Stücken und bei meiner Ehre. Die Gesundheit meiner Patientin oder meines Patienten wird mein oberstes Anliegen sein."

O-Töne Umfrage:

"Es geht jetzt direkt weiter, 1.1. ist direkt Einstieg ins Berufsleben."

"Jetzt endlich anfangen zu können, mit dem, worauf man die ganze Zeit hingearbeitet hat, ist natürlich unbeschreiblich schön."

Hehre Ideale. Ideale, die im harten Klinikalltag schnell untergehen. Diese bittere Erfahrung machte diese junge Assistenzärztin. Wir nennen sie Charlotte S. Sie will nicht erkannt werden. Frisch von der Universität muss die Berufsanfängerin den Nachtdienst in der Notaufnahme übernehmen, und zwar allein, ohne einen erfahrenen Arzt an ihrer Seite. Mitten in der Nacht kommt eine Frau, die über Schmerzen im Knie klagt. Charlotte S. untersucht, lässt röntgen, findet keinen Bruch. Ihr fällt zwar auf, dass die Patientin unnatürlich blass aussieht, aber sie schickt sie trotzdem nach Hause. Mit katastrophalen Folgen.

Zwei Tage später kommt die Frau mit dem Notarzt ins Krankenhaus, jetzt auf die Intensivstation. Sie litt an einer schweren Diabeteserkrankung. Zwei Wochen später stirbt sie an Organversagen. Charlotte S. fühlt sich mitschuldig an ihrem Tod.

O-Ton Assistenzärztin

"Das war natürlich ein Schock für mich, weil ich das Gefühl hatte, ich hätte das zwei Tage vorher vielleicht schon erkennen können … dann hätte es eine Blutentnahme gegeben, dann hätte man im Labor schon diese hohen Blutwerte gesehen der Organe. Und dann hätte man vielleicht schon zwei Tage früher etwas machen können. Ja".

Sie ist verantwortlich, aber die Hauptschuld trifft die Klinikleitung. Die besetzte eine Arztstelle nicht, schickte die Berufsanfängerin deshalb nach nur einer Woche Einarbeitung zum Nachtdienst alleine in die Notaufnahme. Wolfgang Albers war lange Oberarzt. Er kennt solche Missstände und ging deshalb in die Politik. Er findet das Verhalten der Klinik verantwortungslos.

O-Ton Wolfang Albers, Abgeordneter (Die Linke), ehemaliger Oberarzt

"Das geht nicht, da brauchen wir gar nicht darüber zu diskutieren. Das will ich auch nicht beschönigen. Das ist absurd."

Aber Wolfgang Albers verlangt auch von Assistenzärzten mehr Eigenverantwortung: Charlotte S. hätte den Nachtdienst verweigern müssen.

O-Ton Wolfgang Albers, Abgeordneter (Die Linke), ehemaliger Oberarzt

"Das macht man dann auch nicht. Das ist Übernahmeverschulden. Da muss ich sagen, Chef das geht nicht, ich bin eine Woche hier, ich kann das nicht alleine, und wenn ich das alleine machen soll, dann steht dann bitte sehr der Oberarzt in seinem Dienstzimmer im Krankenhaus zur Verfügung".

Doch der Oberarzt war zu Hause und schlief. Er hatte nur Rufbereitschaft. Charlotte S. hätte ihn nachts aus dem Bett klingeln müssen – doch beim letzten Anruf hatte sie sich schon einen Rüffel eingefangen. Auf solche Konflikte war sie im Medizinstudium nicht vorbereitet worden.

O-Ton Assistenzärztin

"Das ist auch unsere Ausbildung insofern gewesen, wir haben immer nur auswendig gelernt und einfach das gemacht, was man uns gesagt hat. Deswegen sind wir da auch gar nicht so darauf getrimmt, uns solche Fragen zu stellen."

Zu widersprechen wagte auch Ben Wachtler am Anfang nicht. Wir treffen den Assistenzarzt abends nach dem Dienst. Er traut sich als einziger, offen vor der Kamera zu sprechen. Auch er fühlte sich anfangs völlig überfordert: Schon nach zwei Wochen musste er die Visiten auf einer kardiologischen Station allein bewältigen, der Oberarzt war nur einmal die Woche dabei.

O-Ton Ben Wachtler, Assistenzarzt

"Das habe ich als sehr belastend empfunden. Und das teile ich, glaube ich mit sehr vielen ... Weil es sehr wenig Einarbeitungszeit aufgrund der knappen personellen Ressourcen auf den Stationen gibt und das auch mit einem Gefühl der Angst verbunden ist, etwas falsch zu machen."

Aber als er sich sicherer fühlt,  fragt er nach dem ärztlichen Ethos. Denn er erlebt, wie Chefärzte und Oberärzte dem ökonomischen Druck der Klinikmanager nachgeben. Er sieht, dass Eingriffe auch deshalb gemacht werden, weil die Klinik daran gut verdient. Das empört ihn.

O-Ton Ben Wachtler, Assistenzarzt

"Wenn man mitkriegt, dass dort Entscheidungen sich verweben, medizinische Entscheidungen sich verweben mit wirtschaftlichen Entscheidungen, dann ist es etwas, was ich moralisch als korrumpiert betrachte und da keinen Anknüpfungspunkt zu finde."

Und Ben Wachtler beklagt, dass er fachlich zu wenig lerne. Die Kliniken verdienen vor allem an Operationen. Und deshalb stehen Chefärzte und Oberärzte ständig im OP. Für die Assistenzärzte bleibt wenig Zeit. Sie dürfen zu selten daneben stehen und unter Aufsicht lernen – denn sie werden ja als billige Arbeitskräfte auf der Station gebraucht.

O-Ton Ben Wachtler, Assistenzarzt

 "Häufig ist es so, dass die Oberärzte und Chefärzte ausschließlich Untersuchungen und Eingriffe machen und dann nur 'ne halbe Stunde nach Feierabend auf der Station vorbeischauen, ob alles in Ordnung ist."

Ben Wachtler kritisiert: In manchen Krankenhäusern werden selbst grundlegende Fertigkeiten wie  Herz-Ultraschall nicht mehr ausreichend vermittelt. Das kann für Patienten sehr gefährlich  werden. Laut einer Umfrage des Marburger Bunds beklagen 63 Prozent aller Assistenzärzte, dass sie während der Arbeit nicht ausreichend weitergebildet werden.

Eigentlich dürfte das gar nicht sein. Denn es gibt  sogenannte "Logbücher". Die schreiben genau vor, was junge Ärzte  für ihren Facharzt alles lernen müssen: Wie viele EKGs zum Beispiel oder Ultraschalluntersuchungen. Und die werden vom Chef- oder Oberarzt abgezeichnet. Bei unseren Recherchen erfahren wir aber: Im Logbuch werden den Assistenzärzten viele Untersuchungen bescheinigt, die gar nicht stattgefunden haben.

Kontrollieren müssten das eigentlich die Ärztekammern. In der Bundesärztekammer konfrontieren wir den zuständigen Fachmann mit unseren Recherchen: Demnach geben viele der von uns befragten Assistenzärzte zu, viele Logbücher seien gefälscht.

Frage:

"Sie hatten im Vorgespräch gesagt, dass Sie vermuten, dass der Prozentsatz sogar noch ein bisschen höher ist?"

O-Ton Franz Bartmann, Bundesärztekammer

"Ja, nein, nein. So kann man das nicht sagen. Ich habe ja gesagt, ich kann es weder bestätigen noch ausschließen. Wir gehen davon aus, dass in dieser Form der geführten Logbücher tatsächlich nicht eins zu eins nachvollziehbar sein würde, ob das tatsächlich auch gemacht worden ist."

Die Bundesärztekammer will die Logbücher in Zukunft fälschungssicherer machen. Assistenzärzte müssten ihre Weiterbildung aber auch selbst einfordern, verlangt der Gesundheitspolitiker Wolfgang Albers.

O-Ton Wolfgang Albers (Die Linke), ehemaliger Oberarzt

"Der Assistenzarzt muss natürlich ein originäres Interesse daran haben, gut ausgebildet zu werden, denn sich irgendetwas bescheinigen zu lassen, was man nicht kann, hilft ihm ja nicht. Denn irgendwann steht er dann als verantwortlicher Facharzt vor dem Patienten. Und was macht er dann? Letztendlich badet es dann der Patient aus."

Einige Universitäten, wie zum Beispiel Münster, haben erkannt, dass sie die soziale Kompetenz der Studenten stärken müssen, auch mit Rollenspielen. Hier üben sie das Gespräch mit Patienten – und zwar unter Aufsicht von Mitstudenten und Ausbildern. Sie üben aber auch Standfestigkeit gegenüber Vorgesetzten ein, und: bei Konflikten, dem Oberarzt oder Chefarzt auch zu widersprechen.

Für den Medizinethiker Prof. Maio ein erster wichtiger Schritt, der aber nicht ausreicht.

O-Ton Prof. Giovanni Maio

"Das ist sicherlich sehr sinnvoll und ein wichtiger Baustein für eine gute Medizin in der Zukunft, aber er wird nicht reichen, wenn wir die Medizin strukturell so belassen, wie sie jetzt ist, nämlich durchökonomisiert, durchgetaktet und allein an Erlösen orientiert."

Als ein Gegenmittel fordern die Ärztekammern, Vorgaben für die Zahl der Ärzte pro Station, also einen Personalschlüssel gesetzlich festzuschreiben. So könnte die Weiterbildung gesichert werden, denn laut einer Umfrage des Marburger Bundes überlegt derzeit jeder zweite Assistenzarzt, den Job im Krankenhaus an den Nagel zu hängen.

Abmoderation: Übrigens haben meine Kollegen noch weiter recherchiert, ihre Interviews mit Assistenzärzten, die über Missstände berichten, können Sie sich interaktiv ansehen. Ausserdem können Sie aktuelle Zahlen und Fakten aufrufen, sowie zusätzliche Einschätzungen von Experten. Das Ganze unter www.kontraste.de, schauen Sie gerne mal in unser Dossier rein.

Beitrag von Ursel Sieber und Robin Avram