Politik -
Mit den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen verändert sich die politische Landschaft in Deutschland fundamental – AfD und BSW, so unterschiedlich sie auch sind, haben zusammen fast die Hälfte der Stimmen erreicht. Der Erfolg der beiden Parteien steht auch für eine Krise unserer liberalen Demokratie, die auf Ausgleich und Kompromiss setzt und in der Deutschland sich klar als Teil "des Westens" versteht.
Beitrag von Georg Heil und Lisa Wandt
Das Erstarken der politischen Ränder ist dabei auch eine Folge der sogenannten Stapelkrisen – nach Corona und Ukrainekrieg, in dessen Folge die Inflation stark angestiegen war. Unsicherheit ist laut Meinungsforschern das derzeit vorherrschende Gefühl bei den Deutschen. Die etablierten demokratischen Parteien schaffen es in dieser Zeit immer weniger, den Menschen in der verunsicherten Republik ein überzeugendes Angebot zu machen. Ein Jahr vor der Wahl schaut Kontraste auf die Ampelparteien in der Krise und die Union, die als einzige Volkspartei in allen Teilen Deutschlands übriggeblieben ist, die jedoch intern noch viele Fragen zu klären hat.
Anmoderation: Da verschiebt sich gerade was in der potlitischen Landschaft in Deutschland. Die Ampel hat abgewirtschaftet. Nur noch 16 Prozent der Deutschen sind zufrieden mit ihr. Ein Jahr vor der Bundestagswahl ist die Lage so spannend wie lange nicht. Tritt Scholz überhaupt noch mal an? Kommt die FDP noch über die Fünf-Prozent-Hürde? Und wird Friedrich Merz unser nächster Kanzler? Seine Union liegt momentan ganz weit vorne. Doch bei näherer Betrachtung hat jede der etablierten Parteien mindestens ein Problem.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Rechtsextremist eine Landtagswahl gewonnen.
"Ein historischer Sieg."
"Nazis raus. Nazis raus."
Thüringerin
"Ich hab‘ Angst.
Thüringer
"Angst."
Die CDU: abhängig von einer Ex-Kommunistin.
Sahra Wagenknecht (BSW), Parteivorsitzende
"Das hat es in der bundesdeutschen Geschichte überhaupt noch nie gegeben."
Die SPD: einstellig. Die Grünen: im Keller. Die FDP – kaum noch messbar.
Ein Jahr vor der Bundestagswahl muss die politische Landkarte in Deutschland neu gezeichnet werden. Das Parteiensystem erodiert, ähnlich wie in Italien oder Frankreich längst passiert, so Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke.
Albrecht von Lucke, Blätter für deutsche und internationale Politik
"Wir haben eine so schicksalshafte Situation in Deutschland, aber auch in Gesamteuropa, dass die Frage: Wie stark ist dieses parlamentarische System, wie stark ist auch diese Regierung, absolut existenziell ist. Wir stehen an einer Zäsur, da die Frage im Raum ist: Hält die liberale Demokratie?"
Fast die Hälfte der Wähler gaben am Sonntag der AfD oder dem BSW ihre Stimme. So unterschiedlich die beiden Parteien auch sein mögen: Sie stellen vieles in Frage, was lange zum Grundkonsens der Parteien gehörte: etwa die Westbindung und die Nato-Mitgliedschaft.
Auch damit verfangen sie bei einer Bevölkerung, die nach Corona; Kriegen und Inflation Halt sucht, sagt Janina Mütze, Gründerin des Meinungsforschungsinstituts Civey:
Janina Mütze, Geschäftsführerin Civey
"Das dominierende Gefühl, was die Menschen miteinander verbindet, ist ein Gefühl von Unsicherheit. Das Gefühl von Kontrollverlust. Ohnmacht, das sicherlich seine Gründe darin trägt, dass wir einfach durch sehr viele Krisen kommen und man aber auch das Gefühl hat, die Lösungen liegen nicht auf dem Tisch."
Einfache Lösungen versprechen, obwohl es sie nicht gibt: eine weitere Gemeinsamkeit von BSW und AfD: Frieden statt Krieg etwa.
Die größte Stärke der Beiden aber ist die Schwäche der anderen. Die Linke ist abgestürzt. Alle drei Ampelparteien zusammen rutschen in Sachsen auf gerade mal 13,3 Prozent ab, in Thüringen auf 10,4 Prozent.
Die Partei, die den Kanzler stellt, steht bundesweit in Umfragen bei 15 Prozent – ähnlich schlecht, wie ein Jahr vor der letzten Bundestagswahl. Damals gewann Olaf Scholz überraschend.
Albrecht von Lucke, Blätter für deutsche und internationale Politik
"Er sagt, was mir damals gelungen ist, gelingt mir jetzt wieder. Ich werde den Herausforderer schlagen, so wie 2021, dabei unterschlägt er aber den entscheidenden Unterschied. Damals war Olaf Scholz die Projektion der Hoffnung auf Führung und auf Sicherheit. Mittlerweile ist er für weite Teile der Bevölkerung ein gebrochenes Versprechen."
Nach dem jüngsten Wahldebakel wird Scholz aus seiner SPD heraus in Frage gestellt.
Kontraste
"Müssen Sie nicht auch über ihren Kanzler nachdenken?"
Kevin Kühnert, 01.09.2024
"Der Kanzler gehört genauso zu dem, was ich gesagt habe, da reden wir auch ganz offen in der SPD drüber."
Der Brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke hält Scholz gar bewusst aus seinem Wahlkampf raus. Was denkt er zur K-Frage?
Kontraste
"Heißt das, das ist noch offen, ob Herr Scholz Kanzlerkandidat wird?"
Dietmar Woidke (SPD), Ministerpräsident Brandenburg
"Ich, das ist eine Entscheidung, die muss die Bundes-SPD treffen. Da gibt es auf der Bundesebene die Diskussion, das ist nicht meine Diskussion."
Ein klares Bekenntnis zu Scholz hört sich anders an.
Albrecht von Lucke, Blätter für deutsche und internationale Politik
"Die Partei merkt: Wir werden mit diesem Kanzler als nächstem Spitzenkandidaten möglicherweise dramatisch Schiffbruch erleiden. Und wir haben möglicherweise jemanden in der Hinterhand, der ein Stückweit den Harris-Faktor auslösen könnte, der dazu geführt hat, dass die Demokraten in den USA wieder Oberwasser bekommen haben. Das ist Boris Pistorius."
Verteidigungsminister Pistorius ist der beliebteste Politiker im Land. Laut aktuellem Deutschlandtrend sind 53 Prozent der Deutschen mit seiner Arbeit zufrieden bis sehr zufrieden. Kanzler Scholz bekommt nur 18 Prozent. Noch nie hatte er einen schlechteren Wert.
Die Kritik scheint an ihm abzuprallen.
Nicht so an den Grünen. In Thüringen sind sie nun raus aus dem Landtag, die Parteispitze fassungslos, ratlos. Seit Habecks Heizungsgesetz-Desaster sind sie das Hassobjekt vieler.
Janina Mütze, Geschäftsführerin Civey
"Sie werden als sehr aktivistisch wahrgenommen, als belehrend, als bevormundend. Und das kommt sicherlich zum Teil aus der Historie, zum Teil auch aus Fakten. Und zum Teil liegt es auch daran, dass sie unangenehme Wahrheiten besetzen."
Etwa beim Klimaschutz – ein Streitthema von Habeck und Lindner. Opposition in der Regierung, darin ist die FDP gut. Am Sonntag haben die Wähler vielleicht auch diese Art der Politik abgestraft, so Spiegel-Redakteur Jonas Schaible.
Jonas Schaible, Spiegel-Redakteur
"Die Chance, die die FDP hatte, glaube ich, hatte nach der Bundestagswahl, eine Kraft in der rechten Mitte zu werden, die deutlich mehr als die eigene Kernwählerschaft ansprechen kann, die hat sie absolut verspielt, indem sie eben Politik vor allem für das eigene Kernpublikum gemacht hat."
Mit ihrem jüngsten Projekt "Gratisparken in Innenstädten" stellte sich die Autofahrerpartei erneut gegen die Grünen. Und jetzt ein vorzeitiges Ende der Ampel?
Direkt nach der Wahl jedenfalls leitete Wolfgang Kubicki auf X die Debatte dazu ein. "Die Ampel habe ihre Legitimation verloren."
Albrecht von Lucke, Blätter für deutsche und internationale Politik
"Es ist ein enormes Risiko, wenn die FDP diese Koalition platzen lässt, weil der alte Spruch: Man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter, genau dazu führen könnte, die FDP abzustrafen."
Baldige Neuwahlen würden vor allem der Union nutzen. In Umfragen ist sie derzeit mit 33 Prozent stärker als alle Ampelparteien zusammen – und damit die letzte Volkspartei in allen Teilen Deutschlands.
Doch so einig man sich am Wahlabend war – so ungeklärt sind viele Fragen im Inneren der Partei.
Jonas Schaible, Spiegel-Redakteur
"Die CDU steht, gemessen daran, wie schlecht die Ampel dasteht, nicht gut da. Das liegt unter anderem daran, dass die Partei nicht so richtig weiß, wer sie ist. Es gibt den Versuch, sie konservativer zu machen. Das ist die Linie von Friedrich Merz. Es gibt aber auch noch das Lager, das in Wahrheit zum Beispiel ganz gerne mit den Grünen arbeiten würde. Und da stecken ganz viele Konflikte drin. Da geht es um Koalitionsfragen, da geht es um die Schuldenbremse, da geht es um die Waffenlieferungen an die Ukraine."
Neben dem Richtungsstreit hat Friedrich Merz – mal wieder – Markus Söder am Hals. Der hat – mal wieder – betont, er stünde als Kanzlerkandidat bereit. Auch diese Frage muss Parteichef Merz wohl bald klären.