Heiße Wahlkampfphase -
Erst dümpelte der Wahlkampf nur so vor sich hin: Habeck am Küchentisch, Scholz im Gespräch mit „normalen Leuten“ und Merz in den Umfragen weit vorne. Doch sein Migrations-Antrag änderte alles: Erstmals hat die Union die Unterstützung der AfD bewusst in Kauf genommen, um einen Antrag im Deutschen Bundestag durchzubekommen.
Beitrag von Pune Djalilevand, Markus Pohl, Daniel Schmidthäussler und Maria Wölfle
Merz sagt, es gehe ihm allein um die Sache. Doch für viele war Merz Vorgehen ein Tabu-Bruch, just an dem Tag, als im Bundestag den Opfern der Shoah gedacht wurde. Holocaust-Überlebende sind entsetzt, Kanzler Scholz wittert Morgenluft im Wahlkampf und warnt vor einer Regierung aus Union und AfD. Und selbst Angela Merkel stellt sich gegen Merz. Allein die AfD jubelt und spricht von einer neuen „Epoche“, in der die AfD den Weg weist. Kontraste-Reporter über einen denkwürdigen Tag, der diesen Wahlkampf verändert hat – und die Politik in Deutschland verändern könnte.,
Anmoderation: Der hat gestern dafür gesorgt, dass der Tag wohl als Zäsur in die Geschichte eingehen wird. Erstmals hat die Union die Unterstüzung der AfD im Bundestag bewusst in Kauf genommen um einen Antrag durchzu bringen. Merz sagt es gehe ihm allein um die Sache - doch für viele war es ein Tabubruch. Der Kanzlerkandndiat der Union ist damit ein hohes Risiko eingegangen. Statt im Wahlkampf ein Thema zu setzen hat er nun eine ganz andere Debatte ausgelöst und 24 Tage vor der Bundestagswahl möglicherweise Olaf Scholz und Robert Habeck ein Wahlkampfgeschenk gemacht.
Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, Vizepräsidentin Bundestag
"Mit Ja haben gestimmt 348, mit Nein haben gestimmt 345, es gab zehn Enthaltungen, damit ist der Entschließungs-Antrag angenommen."
Gestern im Bundestag: Annahme eines CDU-Antrags, aber es applaudiert nur eine Fraktion – die AfD. Ein historischer Dammbruch. Nur mithilfe ihrer Stimmen bringt die Union um Friedrich Merz einen Antrag zur Begrenzung der Migration durch das Parlament.
Bernd Baumann, AfD, Parlamentarischer Geschäftsführer
"Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche, jetzt beginnt was Neues, und das führen wir an, das führen die neuen Kräfte an, das sind die Kräfte von der AfD, sie können folgen Herr Merz, wenn sie noch die Kraft dazu haben!"
Selten war die Stimmung im Parlament so aufgebracht.
Heidi Reichinnek, Linkspartei, Vorsitzende Bundestagsgruppe
"Aller politischen Differenzen zum Trotz, hätte ich mir niemals vorstellen können, dass eine christlich-demokratische Partei, eine christlich-demokratische Partei, diesen Dammbruch vollzieht und mit Rechtsextremen paktiert, das ist es was sie tun! Leistet Widerstand, gegen den Faschismus im Land, auf die Barrikaden!"
Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, Vorsitzende Bundestagsfraktion
"Wenn man in die Gesichter der AfD sieht, dann weiß man, was heute passiert ist. Und dafür tragen Sie die Verantwortung, meine Damen und Herren."
Es war ein Tabubruch mit Ansage. Der CDU-Chef aber mit einer bemerkenswerten Einlassung:
Friedrich Merz, CDU, Kanzlerkandidat
"Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedauere ich das….
Und doch hält Merz daran fest: Nach dem nur symbolischen Antrag will er am Freitag auch ein Gesetz zur Migration beschließen lassen. SPD und Grüne sollten dem zustimmen, verlangt er. Dann käme es nicht auf die AfD an.
Friedrich Merz, CDU, Kanzlerkandidat
"Wenn sie sich dieser Verantwortung entziehen, dann bleibt es ihre Verantwortung, dass darüber keine Mehrheit zustande gekommen ist."
Vier Wochen vor der Wahl ist die Politik in Aufruhr, die demokratischen Parteien zerstritten wie selten. Der Konfrontationskurs von Friedrich Merz bringt auch seine eigene Partei an ihre Grenzen, sagt Spiegel-Journalist Jonas Schaible.
Jonas Schaible, Redakteur Spiegel-Hauptstadtbüro
"Wenn man jetzt im Bundestag saß und gesehen hat, wie die Unionsabgeordneten reagiert haben auf den Moment in dem verkündet wurde, der Antrag hat in der Tat eine Mehrheit, dann muss man sagen, denen dämmerte auch, dass das ganz schwierige Tage werden können. Die guckten eher bedröppelt, die wirkten nicht glücklich. Da hatte man nicht das Gefühl, die sind jetzt da, wo sie sein wollen."
Gegenüber Kontraste aber wiegelt ein prominenter Vertreter der Union gestern ab.
Jens Spahn, CDU, Stellvertretender Vorsitzender Bundestagsfraktion
"Es muss etwas passieren bei illegaler Migration nach Deutschland hinein. Eine große Mehrheit der Deutschen möchte, dass etwas passiert."
Kontraste
"Heißt, dass was passieren muss, dass man dann den Schulterschluss mit einer in Teilen rechtsradikalen Partei sucht?"
Jens Spahn, CDU, Stellvertretender Vorsitzender Bundestagsfraktion
"Wir suchen keine Zusammenarbeit mit der AfD. Es gibt keine Zusammenarbeit mit der AfD. Es wird keine Zusammenarbeit mit der AfD geben. Und auch, wenn Ihre Fragen das versuchen, rhetorisch irgendwie herzuleiten, Kontraste halt, ist das so."
Auch der FDP-Chef hat mit der AfD gestimmt.
Christian Lindner, FDP, Spitzenkandidat
"Ich sehe eher das Problem bei den Sozialdemokraten und Grünen, die ganz offensichtlich keine Bereitschaft dazu haben, eine andere Migrationspolitik in unserem Land umzusetzen."
Die SPD-Fraktion tritt nach der Abstimmung geschlossen vor die Presse. Es sei ein Tag, der sich in die Geschichte eingraben werde, sagt der Fraktionschef.
Rolf Mützenich, SPD, Vorsitzender Bundestagsfraktion
"Leichtfertig, wissentlich und auch eben mit der klaren Konsequenz ist Herr Merz heute aus der politischen Mitte dieses Hauses ausgebrochen."
Am Abend versammeln sich spontan Menschen vor der CDU-Parteizentrale. Plötzlich ist dieser Wahlkampf ganz grundsätzlich geworden, dreht sich um die zentralen Fragen der Demokratie.
Alles fängt an mit den grausamen Morden von Aschaffenburg. Am Mittwoch vergangener Woche ersticht ein psychisch kranker Afghane zwei Menschen, darunter einen zweijährigen Jungen. Der Täter: ein ausreisepflichtiger Asylbewerber, er hätte längst nicht mehr im Land sein dürfen.
Zunächst reagiert der Kanzler. Noch am Abend der Morde verurteilt Olaf Scholz die "Terror-Tat" - eine voreilige Einschätzung.
Demonstrativ bestellt er die Chefs der Sicherheitsbehörden ins Kanzleramt, lässt Fotos davon verbreiten. Und sucht Verantwortliche im CSU-regierten Bayern.
Olaf Scholz, SPD, Bundeskanzler
"Es gibt offensichtlich Vollzugsdefizite, insbesondere in diesem Fall bei den bayerischen Behörden, die ein großes Problem sind."
Christoph Schwennicke, Mitglied Chefredaktion, T-Online
"Das ist die nackte Verzweiflung, denn er ist derjenige, der im Spiegel auf der Titelseite gesagt hat Wir müssen im großen Stil abschieben. Jetzt ist das passiert. Es ist relativ nicklich, kleinlich und peinlich, dass er dann anfängt zu sagen: Das waren aber die Bayern, die es vergeigt haben."
Tina Hildebrand, Ressortleiterin Politik, Die Zeit
"Er hat jetzt gesagt: Ich bin das Leid. Und natürlich fragt sich jeder sofort: Ja, wer hat denn da eigentlich regiert in den letzten Jahren? Und das war er. Und aus diesem Problem kommt er da nicht raus."
Unter dem Eindruck der Tat tritt auch Merz tags darauf vor die Presse. Er will eine massive Verschärfung der Asylpolitik. Ungeachtet rechtlicher Bedenken, ungeachtet der Abgrenzung zur AfD.
Friedrich Merz, CDU, Kanzlerkandidat
"Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich sage nur: Ich gehe keinen anderen".
Merz Forderungen: Zurückweisung aller irregulären Migranten an den Grenzen, Inhaftierung aller vollziehbar Ausreisepflichtigen – also von mehr als 40.000 Menschen. Ein Paukenschlag im Wahlkampf.
Tina Hildebrand, Ressortleiterin Politik, Die Zeit
"Merz wollte eigentlich ja keinen Migrationswahlkampf führen, weil die Union zu dem richtigen Schluss gekommen ist: Da ist die AfD sozusagen immer der Treiber. Die will immer mehr, verlangt mehr. Und deswegen ist man gar nicht so gut beraten, dieses Thema über die Maßen groß zu machen."
Jetzt bricht Merz dafür sogar sein eigenes Wort. Noch im November hatte er angekündigt, nur Anträge in den Bundestag einzubringen, die mit den ehemaligen Ampel-Parteien abgestimmt sind.
Friedrich Merz, CDU, Bundestagsabgeordneter
"um uns alle, die Regierung und uns, davor zu bewahren, dass wir plötzlich Zufallsmehrheiten mit der AfD oder mit den Linken haben. Ich will das nicht."
Gestern die Kehrtwende. Ein Gang ins Risiko, trotz hohen Vorsprungs in den Umfragen.
Jonas Schaible, Redakteur, Spiegel Hauptstadtbüro
"Es gab keine Notwendigkeit sich jetzt selber derart in die Ecke zu manövrieren. Er hätte sogar sagen können, so wie er es am Donnerstag getan hat, das hier sind meine Forderungen, und ich werde die nach der Wahl umsetzen. Und ich werde einen Koalitionspartner finden, der es macht, und der ist übrigens nicht von der AfD. Punkt. Aber er hat sich treiben lassen und jetzt ist er an dem Punkt, und das merkte man heute im Bundestag, wo er in der Defensive ist."
Christoph Schwennicke, Mitglied Chefredaktion, T-Online
"Die Art und Weise, wie die Union mit Friedrich Merz das Thema angehen, ist schon das Prinzip – also in der Spielhalle würde man sagen: all-in, alles auf Zahl."
Ob sich das auszahlt, lässt sich noch nicht absehen. Heute eine neue Umfrage zur Wahl, die kaum Veränderungen zeigt. Die Ereignisse gestern im Bundestag sind darin aber noch nicht berücksichtigt. Mit seinem harten Kurs in der Asyl-Frage könne Merz aber möglicherweise auf Zustimmung hoffen, sagt Meinungsforscher Roland Abold.
Roland Abold, Infratest
"Im Bereich der Migration und Zuwanderung sehen wir bereits seit Monaten, dass eine Mehrheit der Deutschen eine geänderte Migrations- und Zuwanderungspolitik möchte und dort auch der Wunsch besteht, eine restriktivere Politik im Bereich der Aufnahme von Flüchtlingen nach Deutschland zu verfolgen."
Zumindest die CDU-Basis scheint Merz zu mobilisieren. Heek im Münsterland an diesem Sonntag: Mehr als 1.200 Menschen sind gekommen, um Merz zu sehen. Schon vor Beginn muss die Halle wegen Überfüllung geschlossen werden.
"Herzlich Willkommen! Sie hören Friedrich Merz, unser Kanzlerkandidat."
Merz spricht über die Wirtschaft, den Bürokratieabbau, vom Versagen der Ampel. Und natürlich: über die Brandmauer.
Friedrich Merz, CDU, Kanzlerkandidat
"Ich bin nicht länger bereit, nur weil möglicherweise die Falschen zustimmen, im Deutschen Bundestag das Richtige nicht mehr zur Abstimmung zu stellen. Das mache ich nicht mehr."
Christoph Schwennicke, Mitglied Chefredaktion, T-Online
"Wie war das jetzt noch mal Herr Merz? Also es gibt eine Brandmauer, aber Sie wollen eigentlich zu 80 Prozent die Politik der AfD. Erklären Sie uns doch mal bitte, wie das zusammen gehen soll. Darin wird jetzt die Herausforderung für ihn liegen."
In Heek hat man mit dem neuen Asyl-Kurs von Merz wenig Probleme.
Stimmen aus der Bevölkerung
"Mehr als überfällig. Wir eiern da viel zu lange rum. Und am Ende spielt das, was da momentan ja passiert, den Rechten eher in die Hand."
"Er will seinen Vorschlag durchbringen. Wenn sich da - die SPD kann sich anbieten, die Grünen können sich anbieten - wenn die AfD, die sucht jetzt natürlich nen Haken, wo sie sich dranhängen kann. Ganz klar, verständlich für die Leute, aber da kann er ja nichts dafür."
Die feiernde AfD gestern im Bundestag – trägt Merz dafür wirklich keine Verantwortung? Heute meldet sich Altkanzlerin Angela Merkel zu Wort, distanziert sich deutlich von ihrem alten Rivalen:
Angela Merkel, ehemalige Bundeskanzlerin
"Für falsch halte ich es (…) sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen."
Berlins CDU-Bürgermeister Kai Wegner erklärt, Berlin werde im Bundesrat niemals einem Gesetz zustimmen, dass nur mit der AfD zustande gekommen sei.
Und der Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg kündigt an, aus Protest sein Bundesverdienstkreuz zurückzugeben.
Zuspruch dagegen von Ungarns rechtspopulistischem Regierungschef Viktor Orban. Er twittert: "Willkommen im Club!"
In der Debatte gestern hatte Vizekanzler Robert Habeck noch einmal an die Union appelliert, den Antrag zurückzuziehen:
Robert Habeck, Bündnis 90/Die Grünen, Kanzlerkandidat
"Stimmen Sie nicht mit denen ab an dieser entscheidenden Frage, die Rassismus zum Programm machen. Es entkräftet alle ihre Argumente, wenn sie an dieser Stelle mit Rassisten gemeinsam abstimmen."
Auch Vertreter der christlichen Kirchen hatten im Vorfeld scharfe Kritik an Merz Asylplänen geübt: Teile der Vorschläge seien "rechts- bzw. verfassungswidrig". Bei einer Abstimmung mit der AfD drohe, "dass die deutsche Demokratie massiven Schaden nimmt".
Eine Vorlage für den politisch fast schon totgeglaubten Kanzler. Der hat nun endlich ein Thema für den Wahlkampf:
Olaf Scholz, SPD, Bundeskanzler
Es darf nach der Bundestagswahl keine Mehrheit für CDU/CSU und AfD geben, sonst droht uns eine schwarz-blaue Regierung in Deutschland. Denn wer sagt, mir ist gleichgültig, wer für meine Anträge stimmt, der sagt am Ende auch: Mir ist gleichgültig, wer für mich stimmt." – "So ist es!"
Friedrich Merz, CDU, Kanzlerkandidat
"Die Vermutung und die Spekulationen, die sie, Herr Bundeskanzler, hier angestellt haben, sie kennen mich gut genug, sie sind niederträchtig und sie sind infam. Ich werde alles tun, um das zu verhindern, dass es dazu kommt, was sie hier gerade gesagt haben."
Jonas Schaible, Redakteur, Spiegel Hauptstadtbüro
"Friedrich Merz wird mit diesem Stigma leben müssen, er wird erstmal der Mann sein, der das Tabu gebrochen hat. Und es wird für ihn schwierig werden, die Glaubwürdigkeit wieder herzustellen, dass es ihm wirklich ernst ist mit der Abgrenzung. Es wird natürlich auch schwierig werden, Koalitionsverhandlungen zu führen, denn Union und SPD und Grüne haben sich heute derart angegriffen, dass man sich schon fragt, wie das eigentlich in Koalitionsverhandlungen zusammengehen soll."
Ein denkwürdiger Tag im Parlament. Begonnen hatte er – ausgerechnet - mit einer Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus. Anlass: die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Januar 1945.
Er endete mit Triumph und Häme der Rechtsradikalen.
Bernd Baumann, AfD, Parlamentarischer Geschäftsführer
"Das ist wahrlich ein historischer Moment. Herr Merz, sie haben geholfen, den hervorzubringen und jetzt gehen sie ans Mikrofon und stehen hier mit schlotternden Knien und bibbernd und entschuldigen sich und bedauern das. Kanzlerformat war das nicht, Herr Merz!"
Es war ein Tag, an dem es nur einen Gewinner gab: die AfD.