Wahlkampf brutal - Kandidaten als Freiwild

Wahlautos werden in Brand gesetzt, Politiker und Wahlkämpfer beschimpft, zu hunderten werden Wahlplakate zerstört. Die Aggressionen treffen alle Parteien. Kontraste fragt, was treibt die Täter, warum glauben viele, mit Politikern können sie es ja machen?

Anmoderation: Pöbeln, beleidigen, brandschatzen - selten wurden Politiker in einem Wahlkampf so bedroht wie momentan in Berlin ... Deine politische Meinung passt mir nicht? - Spuck ich Dir ins Gesicht. Das Wahlplakat dort drüben geht mir gegen den Strich - reiss ichs ab. - Respekt? Toleranz? Fehlanzeige. - Wie kommt es, dass viele meinen, mit Politikern könnten sie ja machen, was sie wollen. Heike Bettermann, Jana Göbel und Joachim Rüetschi haben nach einer Antwort gesucht.

Auf Tuchfühlung mit dem Wähler.

Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister Berlins

"Kann man sogar lesen"

Berlins Regierungschef Michael Müller im Wahlkampf. Umgeben von Fans und Freunden. Fast so wie es die SPD auf den Plakaten inszeniert hat. Doch die Straße ist unberechenbar.

Gespräch Michael Müller (SPD) mit Bürgerin

Bürgerin: "Die Plakate sind doch furchtbar."

Müller: "Warum?"

Bürgerin: "Was soll das heißen? Berlin bleibt menschlich. Berlin bleibt gradlinig. Das ist doch keine Aussage."

Müller: "Doch! Natürlich!"

Bürgerin: "Das ist ein Skandal."

Gradlinig und direkt. So ging Wahlkampf bisher. Für die Kandidaten nicht immer angenehm. Aber auszuhalten. In diesem Jahr aber geht es beim Bad in der Menge häufig nur noch darum, schnellstmöglich und vor allem heil wieder rauszukommen.

Vox-Pop

"Ihr missachtet die Wähler."

"Die Ausländer sind 10 Millionen hier drinne. Hör bloß auf hier."

Die da oben müssen ganz schön unten durch. Und der Wahlkampf wird zum Risiko.

O-Ton Björn Eggert (SPD)

"Das geht über verbale Attacken bis hin zu an den Leitern zerren. Was wenn man auf soner Höhe steht nicht unbedingt angenehm ist. Aber auch hin bis zum Verfolgen und tätliche Übergriffe, die dann im Krankenhaus enden für die Wahlhelfer."

Es klingt wie verkehrte Welt: Aber Politiker fühlen sich zunehmend von den Bürgern im Stich gelassen. Überfordert. Durch völlig überzogene Erwartungen.

Prof. Thomas Kliche, Politikpsychologe, Hochschule Magdeburg-Stendal

"Menschen haben sowas wie eine Konsumhaltung gegenüber Politik entwickelt. Sie erwarten, dass Politik alles richtet und zwar sehr schön. Dass das am besten kostenlos und ohne den Aufwand von Nachdenken und vor allem von eigenem Engagement passieren soll."

Politiker sollen nicht mehr stark sein. Sie sollen einfach nur liefern. Wohlstand für alle. Und zwar sofort. Abgeordnete gelten nur noch als Deppen, die nichts auf die Reihe kriegen. Der Regierungschef als Oberdepp. So der aktuelle Zeitgeist.

Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister Berlin

"Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre. Dass es so eine Grundkritik an Politikern und Politik gibt. Und dass da bei manchen Leuten die Schranken fallen. Dass sie glauben, sie können sich alles herausnehmen. Weil es sind ja nur Politiker."

Tausende Wahlplakate wurden beschädigt oder zerstört. Insgesamt rechnen die Parteien mit einem Schwund von mehr als 30 Prozent. Gerne auch am hellichten Tag. Hier wird mit selbstgebautem Teleskop-Schneider systematisch AfD-Werbung entsorgt.

Georg Pazderski, AfD-Spitzenkandidat Berlin

"Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass uns 3,6 Tonnen Flyer gestohlen worden sind. Aus der Druckerei sind die gestohlen worden. Wir haben beispielsweise Veranstaltungen diese Woche gehabt, wo ein schwarzer Block da war und versucht hat, das Lokal zu stürmen."

Das Internet. Die Mutter aller Unsitten. Hier hätte man die Möglichkeit, sich mit den Parteien interaktiv auseinanderzusetzen. Heraus kommt eine niveaulose Kollektion von Aggressionen und Pöbeleien. Als »Judensau« wird eine Wahlkämpferin der Linken tituliert. Als »Homo-Idioten« die gesamte Partei.

Und: Die schlechten Online-Manieren werden zunehmend auf die Straße getragen. Beleidigungen und Drohungen sind allgegenwertig.

Daniela Billig (Bündnis90/Die Grünen)

"Ich hatte hier an der Ecke einen Zusammenstoß mit Höchstwahrscheinlich einem Nazi. Der mir dann am Schluss auch sagte: Der Galgen ist für mich schon reserviert. Das ist dann doch ziemlich unschön und ziemlich unangenehm."

Nicht selten geht es kaum noch um die Wahl, sondern nur noch um den Kampf. Ein halbes Dutzend Anschläge auf Wahlkreisbüros ist aktenkundig. Darunter das des Parlamentspräsidenten Ralf Wieland. Vielleicht die Folge von Aufrufen wie diesem: Eine Hetzschrift auf zwei Grünen-Politiker. »Zeigt diesem Pack, daß sie nicht willkommen sind.« Und: »Auch ihr habt Namen und Adressen!« Doch nach unten ist immer noch Luft. In der heißen Phase gingen sogar mehrere Wahlkampf-Mobile in Flammen auf. Thilo-Harry Wollenschläger ist nicht nur CDU-Direktkandidat. Er ist auch Familienvater.

Thilo-Harry Wollenschläger (CDU)

"Ich bin tief betroffen. Wenn das das neue Demokratieverständnis sein soll. Das wir hier an den Tag legen. Ich bin ansonsten mit diesem Wohnmobil unterwegs mit meiner Familie mit meinen Kindern. Und ich bin erschüttert."

Wahlkämpfer als Freiwild. Die Slogans »Berlin geht nur zusammen« oder »Berlin bleibt menschlich« wirken da fast wie Hilferufe.

Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister Berlin

"Es gab immer in den Wahlkämpfen Widerspruch und natürlich auch immer Auseinandersetzungen. Aber dass es jetzt eben auch Übergriffe dann sind auf Infostände, auf Fahrzeuge aller Parteien. Ja auch die Wahlkreisbüros. Teilweise auf die Wohnorte der Abgeordneten. Das ist schon eine etwas andere Qualität."

Ursachenforschung: Klar ist. Politiker bieten viele Angriffsflächen. Durch haltlose Versprechen wie günstigere Mieten zum Beispiel. Oder durch inkompetentes Verhalten wie am Pannenflughafen BER. Doch das alleine reicht nicht aus als Erklärung.

Prof. Thomas Kliche, Politikpsychologe, Hochschule Magdeburg-Stendal

"Es kommen zwei Bewegungen hinzu. Das eine ist die öffentliche Vorführung von Verachtung für Politiker in den Medien. Also ein sehr steuernder, herablassender Umgang in Talkshows aber auch persönliche Angriffe, die eigentlich nur noch unter die Gürtellinie gehen in Kabarett-Sendungen wie zum Beispiel der Heute-Show. Also da wird sozusagen deutlich gemacht, es gibt eine öffentliche Norm: Man kann auf Politiker losgehen. Und das andere ist die Begeisterung des Hasses, mit der die neue Rechte, also die jetzt wieder erwachenden Rechtsextremen auch merken, man kann für Hass gegen Politiker Menschen begeistern."

Beitrag von Heike Bettermann, Jana Göbel und Joachim Rüetschi