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- Agentenring im Zentrum der Macht: Die CIA in der DDR

Viele Jahre konnten zwei Frauen aus der DDR unbemerkt Geheimes und Intimes aus dem Zentrum der Macht in Ostberlin - dem Zentralkomitee der SED - an die CIA nach Washington übermitteln: Ein bisher unbekannter Fall, der an die Äffäre Guilleaume auf der anderen Seite erinnert.

Günter Guillaume, den DDR-Spion an der Seite Willy Brandts, den kennt jeder. Aber wer kennt Gertrud Liebing und ihre Helfershelferin Erika Lokenvitz? Gertrud Liebing, die Alt-Kommunistin, die im Dienst der Amerikaner das Machtzentrum der SED, das Zentralkomitee, minutiös und detailliert ausforschte. Kontraste-Autor Reinhard Borgmann ist es nach monatelangen, mühsamen Recherchen gelungen, nicht nur die Top-Spionin des CIA zu entdecken, er enthüllt auch eine Biographie mit Berlin, dem Schauplatz des Kalten Krieges, im Mittelpunkt.


Mai 1966. Krankenhaus der Volkspolizei in Ostberlin. Hier wird eine Frau operiert, die im Zentralkomitee der SED arbeitet. Diagnose: unheilbarer Krebs. Lebenserwartung: maximal zwei Jahre. Doch die Ärzte täuschen die Patientin über ihren Zustand. Grund: Das Ministerium für Staatssicherheit observiert die kranke Frau. Gertrud Liebing ist Top-Spionin des amerikanischen Geheimdienstes. Wüßte sie von ihrer tödlichen Krankheit, würde sie bei späteren Verhören schweigen.

Ihr Auftraggeber: die CIA. Seit 1955 liefert sie unter dem Decknamen "Markus" Staatsgeheimnisse der DDR.

Ihr Ziel: das Zentralkomitee der SED, das Zentrum der Macht. Gertrud Liebing gibt Auskünfte über 1350 ZK-Mitarbeiter, über Strukturen des Parteiapparates und über wichtige politische Maßnahmen von Partei und Regierung.

Nach 11 Jahren kommt ihr die Staatssicherheit auf die Spur. Jetzt liegen die Ermittlungsakten vor. Wer war diese Frau?

Gertrud Liebing, Jahrgang 1911, uneheliche Tochter einer Metallarbeiterin, gelernte Fleischermamsell, später Löterin in einer Metallfabrik.

1928 Mitglied des Roten Frauen- und Mädchenbundes und der KPD. Später illegale Aktionen gegen die Nazis.

Anfang der 50er Jahre: SED. Doch von der stalinistischen Partei ist Gertrud Liebing schnell enttäuscht. Sie lehnt das System der DDR grundsätzlich ab, so wird sie für den CIA interessant:

Dr. Jochen Staadt, Forschungsverbund SED-Staat
"Gertrud Liebing war eine lebenslustige Frau. Und sie hatte eine Cousine in West-Berlin, mit der sie zum Tanzen ging. Und bei dieser Gelegenheit lernte sie amerikanische Männer kennen, die Mitglieder des CIA waren und dann mit ihr ins Gespräch kamen. Und es stellte sich dann offenbar auch sehr bald heraus für die amerikanischen Offiziere, daß sie eine Kritikerin des Regimes war. Und auf diesem Weg ist der Kontakt zustande gekommen."

Bevor Gertrud Liebing in das ZK der SED vorstößt, beginnt ihre Spionagekarriere hier bei RFT in Ostberlin: Sie arbeitet als Löterin im Funk- und Fernmeldeanlagenbau. Für den CIA erkundet sie Stimmungsbilder in der Belegschaft, Schwierigkeiten bei der Planerfüllung und Inhalte von Parteisitzungen.

Über die damals offene Grenze kommt Gertrud Liebing alle zwei Wochen nach Westberlin, bis zum Mauerbau 130 mal. Die CIA bezahlt sie anfangs mit 50 Mark im Monat, später werden es 200.

Die inzwischen etwas molligere Gertrud Liebing wirbt ihre Kollegin Erika Lokenvitz an, die auch bei RFT arbeitet. Ein hochkarätiges Spionageduo.

Die Tochter von Erika Lokenvitz kann sich noch genau an Gertrud Liebing erinnern. Die kontaktfreudige Frau schloß Freundschaft mit ihrer Mutter zum Nutzen der CIA. Und ihre Mutter machte bereitwillig mit.

Helga Schmidt, Tochter von Erika Lokenvitz
"Das war so'n Charakterzug von ihr, daß sie alles das geglaubt hat, was man ihr gesagt hat."

Frage:
"Dann scheint die Gertrud Liebing doch einen großen Einfluß auf sie gehabt zu haben?"

Antwort:
"Ja. Na ja, die hat sie ausgehorcht bis zum ... Na ja, und meine Mutter, die war so leichtgläubig, möchte ich mal sagen."

1959. Die CIA ist am Ziel. Gertrud Liebing hat auf ihre Weisung hin eine Stelle als Fernmeldemonteurin im Zentralkomitee angenommen. Dort kann sie Gespräche in der Telefonzentrale abhören. Darüberhinaus baut sie zielstrebig Kontakte zu technischen Mitarbeitern des ZK aus. So erfährt sie Themen und Inhalte geheimer Sitzungen und Einzelheiten der technischen Sicherheitssysteme. Mit Gertrud Liebing hat die CIA eine Top-Spionin im Zentrum der Macht.

13. August 1961. Die Grenzen sind geschlossen. Kein Problem für die CIA. Der amerikanische Geheimdienst hat vorgesorgt und seine Spitzen-Agentin geschult. Mit einem Radio der Marke "Ilmenau 4880" empfängt Gertrud Liebing Funksprüche aus dem Westen. Die endlosen Zahlenkolonnen enthalten verschlüsselte Anweisungen für sie. Das gibt sie bei den späteren Verhören der Stasi zu.

Jochen Staadt, Forschungsverbund SED-Staat
"Wenn man die Aussagen von Frau Liebing sich anschaut, dann wird deutlich, daß sie im Inneren des Zentralkomiteeapparates vielfältig über Prozesse von Korruption berichtet, daß sie berichtet über die Methoden, wie sich Funktionäre bereichern, wie sie schon damals im Unterschied zu der Bevölkerung beste Lebensumstände sich zu verschaffen wissen, wie sie wohnen und sich Privilegien verschaffen. Und dies alles hat sie angeekelt, wie sie sagt in den Verhören, und ist wohl auch ein wesentlicher Punkt für ihre Überzeugung, daß dieses System von innen marode ist."

Gertrud Liebing erfährt, was die CIA wissen will: Intimitäten aus dem Leben der Herrschenden. Das ZK sei ein "Sauf- und Hurenstall", teilt sie den Amerikanern mit.

Intimitäten auch über Hilde Benjamin, unerbittliche Verfolgerin jeder Opposition in der DDR. Gertrud Liebing berichtet der CIA über Mitglieder eines ...

Zitat
"... mehrere Personen umfassenden lesbischen Kreises, dem unter anderen auch die Dr. Hilde Benjamin angehört."

Was die CIA längst weiß, erfährt die Stasi erst 1966 durch die Verhöre von Gertrud Liebing.

Wenige Monate nach dem Verhör: Hilde Benjamin feiert ihren 65. Geburtstag. Bald darauf ist sie ihr Amt als Justizministerin los. Vermutlicher Grund: Gertrud Liebings Berichte an die CIA.

Jochen Staadt, Forschungsverbund SED-Staat
"Die CIA hat mit Frau Liebing und ihren mit ihr verbundenen anderen Spionen bzw. den Abschöpfungsquellen, die sie hatte, präziseste Informationen über das innere Machtzentrum des SED-Staates. Das ist meines Erachtens im Prinzip vergleichbar mit dem Fall Guilliaume in der Bundesrepublik, wenn auch die politische Qualität von Frau Liebing mit der Guillaumes wahrscheinlich nicht vergleichbar ist."

Im ZK der SED leistet Gertrud Liebing ganze Arbeit. Zusammen mit ihrer Freundin Erika Lokenvitz - zwei harmlos erscheinende Frauen - bildet sie ein eingespieltes Agententeam: Gertrud Liebing stiehlt aus dem ZK geheime stenographische Notizen, Erika Lokenvitz übersetzt sie. Unter handgeschriebenen Briefen an die "liebe Freundin" in Westberlin werden die Botschaften weitergegeben - mit Geheimtinte. Doch dann das Ende: Zufällig wird einer dieser Briefe von der Stasi entdeckt und entschlüsselt, die CIA-Spionage ist enttarnt.

Von da an wird die inzwischen wegen ihrer Krankheit stark abgemagerte Gertrud Liebing sieben Monate lang ständig observiert, Material wird gegen sie gesammelt. Erst dann schlägt die Stasi zu: Gertrud Liebing wird verhaftet und trotz ihrer unheilbaren Krebserkrankung wochenlang verhört. Die Stasi verschweigt ihr, daß sie bald sterben muß. Auch nach DDR-Gesetzen hätte sie deshalb aus der Haft entlassen werden müssen.

Lothar de Maizière, Rechtsanwalt
"Es ist mir in dieser krassen Form auch in meiner damaligen Praxis nicht bekannt geworden, solches Vorgehen. Und ich sehe es jetzt heute auch vor dem Hintergrund der Behandlung von Erich Honecker beispielsweise. Dort hat mit Sicherheit ein wesentlich höheres Ermittlungsinteresse auch im Sinne der historischen Aufarbeitung, Gerechtigkeit bestanden. Und dennoch hat man aus humanitären Grundsätzen heraus sich entschlossen, das Verfahren gegen ihn einzustellen."

Gertrud Liebing wird ein kurzer Prozeß gemacht: Das Urteil: 12 Jahren Zuchthaus, 6 Wochen später stirbt sie.

10 Jahre Haft erhält Erika Lokenvitz. Nach fünf Jahren wird sie aus der Haftanstalt Bautzen vorzeitig entlassen. Sie stirbt 1982 in der DDR.

Was tat die CIA für ihre Top-Spione? Die Amerikaner kannten das Schicksal der beiden Frauen genau. Trotzdem: keinerlei Bemühungen um einen Ost-West-Agententausch.

Wolfgang Vogel, ehemaliger DDR-Unterhändler
"Ich denke, wenn Frau Liebing und Frau Lokenvitz auf einer Austauschliste in diesen 60er Jahren gestanden hätten, dann wäre es möglich gewesen, über sie zu verhandeln und dann vielleicht auch eine Lösung zu finden."

Die CIA hat damals alle eigenen Landsleute, die in der DDR in Haft waren, relativ schnell freibekommen. Gertrud Liebing und Erika Lokenvitz bekamen keine Chance.



Dankbarkeit ist ein Fremdwort im Spionagegeschäft. Gertrud Liebing und Erika Lokenvitz waren auch von der Bundesregierung nicht freizukaufen. Denn das verweigerte die DDR. Sie wollte das Bekenntnis der westlichen Geheimdienste zu ihren deutschen Agenten. Das machten Engländer und Franzosen, die Amerikaner aber zogen erst 1985 nach. Austauschaktion auf der Glienicker Brücke: Eure Spione gegen unsre. 1985: Da war Gertrud Liebing schon 19 Jahre und Erika Lokenvitz 3 Jahre tot. Kontraste hatte den amerikanischen Geheimdienst CIA um Auskünfte gebeten. Sie wurden verweigert.