Buchausschnitt (Quelle: rbb)

- Kein Name, kein Gesicht – warum die DDR-Geschichtsschreibung nicht von Gerichten zensiert werden darf

In kaum einem Land der Welt gibt es so viele Medien wie in Deutschland. Eine unendliche Auswahl von Zeitungen und Zeitschriften und - wenn man mag - hunderte Fernsehprogramme. Vom Internet mal ganz zu schweigen. Doch was nützt das Riesen-Angebot, wenn Zeitungen und Fernsehsender über bestimmte Dinge gar nicht berichten dürfen?

Zum Beispiel über Menschen, die moralisch mitverantwortlich waren für das, was an der Berliner Mauer geschah. Da zählt die Pressefreiheit auf einmal nicht mehr. Benedict Maria Mülder erzählt die Geschichte von einem Mann, der die Schatten-Seiten seiner DDR-Vergangenheit am liebsten verheimlichen würde und wie ihm die Gerichte dabei helfen.

Das ist Sven Hüber. Vorsitzender des Hauptpersonalrates bei der Bundespolizei. Er ist beteiligt, wenn es um Personalfragen im höheren Dienst geht. Sein oberster Chef der Innenminister.

Hüber pflegt politischen Beziehungen. Zum Beispiel zu dem CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, zu SPD-Fraktionschef Peter Struck oder zu seinem einstigen Chef, Ex-Innenminister Otto Schily. Doch der Personalrat hat auch eine interessante Vergangenheit.

In der DDR war Hüber Politoffizier der Grenztruppen an der Berliner Mauer. Ein linientreuer Genosse. Im WDR-Schulfernsehen sprach er 2003 über seine Aufgabe als junger Grenzer.

Sven Hüber, 2003
„Diese Grenze ist dicht. Undurchlässig. Unverletzlich. Die wurde ja nicht als undurchlässig bezeichnet, sondern als unverletzlich. Eine Verletzung unserer Souveränität, unserer Rechte als Staat wird nicht zugelassen.“

Die Grenzsoldaten der DDR waren für die „Sicherung der Staatsgrenze“ zuständig. Abschreckung nach innen die wichtigste Aufgabe. Allein an der Berliner Mauer wurden mindestens 125 Menschen getötet, als sie versuchten zu flüchten.

In diesem Buch geht es um die Mauerschützen und ihre Opfer. Am Rande erwähnt wird Hübers Rolle als Politoffizier, zusammen mit den Namen zweier anderer Offiziere, die mittelbar oder unmittelbar verantwortlich waren für die Schüsse auf Chris Gueffroy, 1989 der letzte Mauertote.

Durch diesen Abschnitt im Buch sieht sich Hüber „unzulässigerweise mit den Todesschüssen auf Chris Geffroy in Verbindung gesetzt“ und klagt gegen Verlag und Autor auf Unterlassung.

Er bekommt Recht vor dem Berliner Landgericht. Die Richter meinen, dass der ihn betreffende Satz mehrdeutig sei. Beim Leser müsse nicht, könne aber der falsche Eindruck entstehen, er sei für den Tod von Chris Gueffroy
Zitat:
„…aufgrund seiner herausgehobenen Stellung als der maßgebliche Politoffizier mit verantwortlich.“

Laut Berliner Landgericht hat es Grafe deshalb
Zitat:
„…zu unterlassen, den Namen des Klägers im Zusammenhang mit seiner Funktion beim Grenzregiment 33 und/oder im Zusammenhang mit den Todesschüssen auf Chris Gueffroy und/oder im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei der Bundespolizei wie in dem Buch (…) geschehen, zu verbreiten.“

Dieses Urteil kann Buchautor Roman Grafe nicht verstehen. Er hat nie behauptet, dass Sven Hüber mittelbar oder unmittelbar persönlich mit dem Tod von Chris Gueffroy zu tun gehabt habe. Ihm gehe es viel mehr um die politisch-moralische Verantwortung ehemaliger DDR-Funktionsträger wie Hüber.

Roman Grafe, Autor
„Er ist mitverantwortlich. Er hat eine moralische Mitschuld an diesen Schüssen, weil er zum diesem kriminellen System gehört hat.“

Um es klar zu sagen: Hüber hat nicht selbst geschossen. Er hat auch nicht dahingehend persönlich auf die Todesschützen eingewirkt. Er selbst sagt, als Politoffizier und Jugendinstrukteur habe er sich um Freizeitveranstaltungen gekümmert und keine politische Indoktrination betrieben.

In der DDR studierte Hüber Gesellschaftswissenschaften an einer Offiziersschule. Berufsziel: Politoffizier. Seine Diplomarbeit – eine Kampfschrift gegen den Bundesgrenzschutz, Vorgänger seines heutigen Arbeitgebers, der Bundespolizei.

Titel der Arbeit:
„Der Bundesgrenzschutz als Instrument imperialistischer Macht- und Herrschaftssicherung.“

Hübers heutiger Arbeitsplatz: Das Innenministerium. Als Personalrat vertritt er 30.000 Bundespolizisten. Über seine Vergangenheit bei den DDR-Grenztruppen, wie im Buch erwähnt, möchte er nun mit Hilfe Berliner Richter den Mantel des Schweigens legen. Für Historiker ein bekanntes Muster:

Jochen Staadt, Forschungsverbund SED-Staat
„Das Geschichtsverständnis des Gerichts entspricht dem Geschichtsverständnis, das viele Deutsche nach dem Ende der Diktaturen gerne als das allgemein geltende sich wünschen: nämlich, dass hier in dem Land nur Leute herumlaufen, die an nichts beteiligt waren, die von nichts wussten. Das kennen wir nach 1945 und das kennen wir auch nach dem Ende der DDR. Man will es nicht gewesen sein, hat nichts gewusst, und man möchte damit nicht behelligt werden.“

Nach dem Urteil zieht Sven Hüber gegen die Berichte über den Prozess zu Felde, erreicht, dass die Richter ihre Maßnahmen verschärfen.

Der Süddeutschen Zeitung wird untersagt, namentlich über Sven Hüber so wie in diesem Artikel zu schreiben. Darüber hinaus untersagt das Gericht, in diesem Zusammenhang ein Foto zu veröffentlichen, das Hüber neben Otto Schily zeigt. Für die Zeitung ein Angriff auf die Pressefreiheit.

Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung
„Betrachtung von Zeitgeschichte wird unmöglich gemacht und das greift tatsächlich in die Substanz von Pressefreiheit ein. Hier geht’s nicht um Firlefanz, um Unterhaltung, um Prinzessin Caroline, die irgendwo spazieren geht und sich irgendwo am Strand tummelt. Hier geht’s darum, dass Beamte die heute an maßgeblicher Position tätig sind, in der DDR auch an maßgeblicher Position tätig waren, und das Gericht untersagt mir, mit Namen darüber zu berichten. Ich muss anonymisiert berichten und ein anonymisierter Bericht ist ein Bericht mit dem der Leser nichts anfangen kann. Er braucht das Schicksal.“

Und es geht weiter. Als die Frankfurter Allgemeine über den Streitfall berichtet, klagt Hüber erneut.

Das Berliner Landgericht untersagt der Zeitung sogar, wie in ihrem Artikel…
:
„…identifizierend über den Rechtsstreit … zu berichten.“

Für die ostdeutsche Autorin des Artikels unfassbar.

Regina Mönch, FAZ-Redakteurin
„Er will nun eigentlich - in meinem Fall besonders absurd, denn auch ich bin Ostdeutsche, nicht nur der - er will mir schon wieder verbieten, was ich denken soll, was ich schreiben soll, wie ich eine Sache bewerten soll.“

Der Rechtsprofessor von Heinegg wertet die Rechtsprechung als Fehlurteil. Nicht nur wegen seiner heutigen Stellung habe Sven Hüber kein Recht auf Anonymität:

Wolff Heintschel von Heinegg, Europa-Universität Frankfurt/Oder
„Er steht in Zusammenhang mit historisch bedeutsamen Ereignissen aus der Sicht Deutschlands. Und aus diesem Grunde kann er diesen Anspruch auf absolute Anonymität nicht geltend machen, und wenn die Gerichte aber gleichwohl ihm da recht geben, dann läuft es auf ein absolutes Berichtsverbot über die Person Hüber und alles, was mit der Person Hüber zusammenhängt, hinaus.“

Am Fall Hüber wird sich entscheiden, wie in Zukunft über Geschichte, den Einzelnen und seine Verantwortung berichtet wird.

Nach unserer Auffassung ist Sven Hüber Person der Zeitgeschichte. Und seine Vergangenheit soll Ihnen als Zuschauer nicht vorenthalten werden. Natürlich haben wir auch versucht, mit ihm selbst zu sprechen, doch ein Interview hat er abgelehnt.