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Auf den ersten Blick scheint es ein Erfolg zu sein: 68 Jahre nach Kriegsende wird gegen 50 ehemalige SS-Wachmänner aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermittelt. Doch KONTRASTE-Recherchen ergaben: Die mutmaßlichen Täter sind zwar der Justiz seit Jahrzehnten bekannt, doch die zuständigen Staatsanwälte in der Zentralen Stelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten handelten nicht.
Vielleicht haben Sie es in den Medien verfolgt: Fast 70 Jahre nach Kriegsende wollen Ermittler jetzt 50 ehemalige Wächter des KZ Auschwitz-Birkenau vor Gericht stellen. Vielerorts wurde die Ankündigung begrüßt. Das verwunderte uns: Denn, haben wir uns gefragt, ist es wirklich ein Erfolg, dass die deutsche Justiz erst jetzt - Jahrzehnte später - auf die Idee kommt, gegen Mittäter zu ermitteln? Markus Pohl und Lisa Wandt über ein erschreckendes Versagen.
Es ist ein Zugriff, der Fragen aufwirft. Am Montag voriger Woche halten Kriminalbeamte vor diesem Haus im schwäbischen Städtchen Aalen. Sie nehmen den 93jährigen Hans Lipschis fest. Der Vorwurf gegen den früheren SS-Mann: Beihilfe zum vielfachen Mord. Lipschis Personalakte belegt: Der ehemalige Rottenführer gehörte zur Wachmannschaft in Auschwitz-Birkenau.
Gegen 49 weitere Aufseher des Vernichtungslagers ermitteln die Behörden seit kurzem. Sie alle leben offenbar bis heute unbehelligt in Deutschland.
Esther Bejarano
Auschwitz-Überlebende
„Jetzt nach 70 oder 80 Jahren plötzlich zu suchen nach SS-Aufsehern, die in Auschwitz waren oder in anderen Konzentrationslagern, wo die Leute 90 Jahre alt sind und noch mehr und noch älter. Das ist eine Farce! Für mich ist das, also, unmöglich. Das hätte man gleich machen müssen, nach dem Krieg, nach 45."
Warum erst jetzt? Warum wurden die Aufseher aus Auschwitz nicht längst zur Rechenschaft gezogen?
Wir forschen nach in Ludwigsburg. Dort sitzt die Zentrale Stelle für die Verfolgung von NS-Verbrechen. Sie führt die Ermittlungen. Alleinige Aufgabe seit über 50 Jahren: die Untersuchungen gegen Nazi-Verbrecher bundesweit bündeln und vorantreiben. Ihr Leiter versucht zu erklären, warum er erst jetzt handelt - mit einer eigentümlichen Rechtsauffassung.
Kurt Schrimm
Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg
„Ich möchte es vielleicht an einem Beispiel erklären: Der Aufseher, der das Gas eingefüllt hat in die Gaskammer. Er war derjenige, der direkt zum Tod eines Häftlings beigetragen hat und war deswegen schon nach der bisherigen Rechtsprechung als Gehilfe zu bestrafen. Nicht so derjenige, der nur allgemein tätig war im Lager und mit dem unmittelbaren Tod des Häftlings nichts zu tun hatte, beispielsweise derjenige, der auf dem Wachturm stand und die Häftlinge ‘nur’ in Anführungszeichen an der Flucht hinderte."
Das ist falsch! Den Beleg lieferte vor zwei Jahren das Urteil gegen John Demjanjuk. Das Landgericht München sprach den ehemaligen Wachmann im Vernichtungslager Sobibor der Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Juden schuldig. Obwohl ihm keine einzige Tat individuell zugerechnet werden konnte.
Der Strafrechtler Cornelius Nestler war im Demjanjuk-Verfahren Vertreter der Nebenklage. Er ist überzeugt: Die niederen SS-Schergen hätten schon längst juristisch verfolgt werden können.
Prof. Cornelius Nestler
Strafrechtler
“Im Demjanjuk-Verfahren gab´s immer den Vorwurf, das wäre etwas ganz Neues. Die Ermittlungen gegen jemanden, dem man keine wie es immer hieß konkrete Einzeltat nachweisen kann, das sei eigentlich eine Änderung der Rechtssprechung. Und ein Blick in die Urteile zu den Vernichtungslagern Sobibor und Treblinka, 60er und 70er Jahre, hat ganz deutlich gemacht, dass das vollkommen falsch war. Dort haben die Gerichte ausdrücklich gesagt, dass etwa Buchhaltung, Holz aus dem Wald holen, Leichen verbrennen, andere Tätigkeiten, also alle die Tätigkeiten, die funktional dazu beigetragen haben, dass der Mord der Menschen im Vernichtungslager stattfinden konnte, alle als Beihilfe bewertet wurden.”
Eine Sichtweise, die der Bundesgerichtshof 1971 bestätigte, vor mehr als 40 Jahren! Trotz dieses Urteils unterließ es Ludwigsburg weitgehend, gegen die Helfer der Massenmorde vorzugehen.
Prof. Cornelius Nestler
Strafrechtler
„Es ist ein juristischer Blindflug über Jahrzehnte hin.”
KONTRASTE
“Was meinen Sie damit?”
Prof. Cornelius Nestler
Strafrechtler
“Nicht zu sehen, dass die tatsächlichen Vorgänge, mit denen man es zu tun hat, ganz schlicht und ganz einfach als Beihilfe zu bewerten sind."
Ein jahrzehntelanger Blindflug - erst jetzt ist man in Ludwigsburg bereit, klarer zu sehen.
Kurt Schrimm
Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg
„Ein Neu-Überdenken jetzt im Anschluss an Demjanjuk hat uns dazu gebracht zu sagen, vielleicht war diese Rechtsprechung doch falsch, und wir werden versuchen, eine neue Rechtsprechung herbeizuführen.”
KONTRASTE
“Und das hätte man nicht vorher auch machen können?”
Kurt Schrimm
Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg
“Das hätte man machen, theoretisch machen können, aber es ist nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft."
Wer aber hätte es machen sollen, wenn nicht die eigens für die Nazi-Verbrechen geschaffene Behörde?
Ohne Aufseher und Wachleute wäre das Morden in den Konzentrationslagern nicht möglich gewesen. Eine einfache Einsicht, die für die Überlebenden nie in Zweifel stand. Esther Bejaranos Eltern und ihre Schwester wurden von den Nazis ermordet. Sie selbst kam mit 18 Jahren nach Auschwitz, überlebte nur, weil sie für das Lagerorchester ausgewählt wurde.
Esther Bejarano
Auschwitz-Überlebende
„Ich bin doch, im Viehwagon bin ich doch von Berlin nach Auschwitz gekommen. Ja, haben die das nicht gewusst, die ganzen SS-Leute, die uns begleitet haben, die wussten nicht, dass wir nach Auschwitz kommen und dass das eben für viele der Tod bedeutete? Natürlich haben sie es gewusst, alle haben das gewusst. Und man kann nicht sagen, die kann man nicht verurteilen, die haben alle mitgemacht!"
In den großen Auschwitz-Prozessen der 60er Jahre in Frankfurt wurden zwar wichtige Angehörige des Lagerpersonals verurteilt. Der Großteil der unteren Chargen des NS-Vernichtungsapparates aber blieb unbehelligt.
Woher kommen die Namen der 50 Aufseher, gegen die erst jetzt ermittelt wird? Sind sie wirklich neu?
Im Frankfurter Fritz-Bauer-Institut lagern Verfahrensakten, die für die Auschwitz-Prozesse erstellt wurden. Der Historiker Werner Renz betont, wie genau die Ermittler schon damals die Verhältnisse im Lager kannten.
Werner Renz
Historiker, Fritz-Bauer-Institut
„Hier haben wir den Karteientisch der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main mit zwei Karteien: Die Häftlingskartei, also die Überlebenden von Auschwitz, die vernommen worden sind im Rahmen der verschiedenen Ermittlungsverfahren. Und in der roten Kartei sind die SS-Angehörigen von Auschwitz aufgeführt, es ist aufgeführt ihr Dienstrang, ihre Diensttätigkeit, ihr Dienstort oder ihre Dienstfunktion. Es war auch oftmals der Wohnort dieser Beschuldigten bekannt, die Ermittler hatten einen umfassenden Überblick über das SS-Personal von Auschwitz."
Ein Konvolut mit mehr als 4.000 SS-Angehörigen, zumeist aus den Totenkopfverbänden. Darunter der erst jetzt festgenommene Hans Lipschis, samt aktualisierter Anschrift.
Werner Renz
Historiker, Fritz-Bauer-Institut
„Wir können dieser Karte entnehmen, dass sein Wohnort seit 1999 bekannt war, man hätte also schon damals die Möglichkeit gehabt, gegen ihn Ermittlungen einzuleiten und möglicherweise ihn in U-Haft zu nehmen."
Auch die Namen der 49 anderen Auschwitz-Aufseher waren längst aktenkundig. Eine Kopie der sogenannten „Frankfurter Liste" mit dem SS-Lagerpersonal liegt in Ludwigsburg vor. Genutzt wurde sie all die Jahre offenbar nicht.
Kurt Schrimm
Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg
„Diese Listen wurden gefunden, als wir beschlossen hatten, Auschwitz noch einmal aufzugreifen, Anlass Demjanjuk, dann stellten wir uns die Frage, wie gehen wir da vor, und bei diesen Recherchen ist der Kollege auf diese Listen gestoßen.”
KONTRASTE
“Das heißt, die lagen hier im Haus, aber man wusste vielleicht gar nicht, dass sie hier liegen?”
Kurt Schrimm
Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg
“Die jetzt hier arbeitenden Kollegen wussten es nicht.”
KONTRASTE
“Und Sie?”
Kurt Schrimm
Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg
“Auch nicht.”
KONTRASTE
“Wie kann das sein?”
Kurt Schrimm
Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg
“Wir haben ja keine Veranlassung zu überprüfen, was liegt in unseren Archiven. Archiv ist Archiv."
Versagen oder Vorsatz? Warum war Ludwigsburg so lange untätig?
Nach Ansicht von Professor Christiaan Rüter, Leiter des Amsterdamer Forschungsprojektes „Justiz und NS-Verbrechen", steckt hinter dem Nichts-Tun-System.
Prof. Christiaan F. Rüter
Universität Amsterdam
„Die zentrale Stelle hat bestimmt auch gute Arbeit geleistet. Aber die Zentrale Stelle ist gegründet worden, um die Masse der Beihilfe-Leute unverfolgt davonkommen zu lassen."
Die Nazi-Helfer sollten also nicht verfolgt werden. Ein schwerer Vorwurf, der sich aber belegen lässt. Die Zentrale Stelle äußert sich schon ein Jahr nach ihrer Gründung entsprechend. Dem Bielefelder Landgericht gegenüber erklärt sie 1959:
„´Kleine Befehlsempfänger`, wie z.B. Angehörige der Erschießungs- oder Absperrkommandos sollten im allgemeinen nicht unter Anklage gestellt werden."
Prof. Christiaan F. Rüter
Universität Amsterdam
„Und dass das passiert ist, ist ohne jeden Zweifel. Denn sonst hätte Herr Schrimm nicht jetzt noch 50 Jahre, mehr als 50 Jahre nach Gründung der Zentralen Stelle, noch 50 Opas aus seinem Karteikasten gezogen."
Jahrzehntelang ist nichts passiert. Die Hoffnung auf späte Gerechtigkeit hat Esther Bejarano längst aufgegeben.
Esther Bejarano
Auschwitz-Überlebende
„Das ist schon wahr, besser jetzt als nie, aber es ist einfach unmöglich meiner Meinung nach. Weil diese Leute können sowieso nicht mehr verhaftet werden oder belangt werden, weil sie so alt sind, und zum Teil so krank sind, dass sie überhaupt gar nicht mehr fähig sind, irgendeinen Prozess zu überstehen oder so. Also, das ist wirklich das Allerletzte!"