- Verbrechen an Deutschen – Tschechen arbeiten Vergangenheit auf

Die Entdeckung eines Massengrabes in Tschechien sorgte nicht nur dort für Schlagzeilen. Rund 15 Sudetendeutsche wurden nach bisherigen Erkenntnissen am 19. Mai 1945 in dem Dorf Dobrinin erschlagen oder erschossen. 65 Jahre nach Kriegsende beginnt nun in Tschechien eine Debatte über die dunklen Seiten der eigenen Geschichte.

Was geschah 1945 wirklich, als Millionen Deutsche die Tschechoslowakei verlassen mussten? Erst jetzt, 65 Jahre nach Kriegsende, beginnen sich die Tschechen mit dieser Frage zu beschäftigen. Und voller Entsetzen realisieren einige, dass sie damals nicht nur Opfer von Deutschen waren, sondern einige auch Täter waren. Das dokumentieren die jetzt entdeckten Massengräber mit den Leichen ermordeter Deutscher. Diese Verbrechen zu untersuchen - dafür hat sich jetzt der tschechische Außenminister gegenüber KONTRASTE ausgesprochen. Eine Neubewertung der Nachkriegsgeschichte. Tom Fugmann und Benedict Maria Mülder.

Heinrich Polzer erinnert sich: 65 Jahre ist es her, dass er seinen Vater Johann zum letzten Mal gesehen hat. An einem Tag im Mai 1945 nach dem Ende des Krieges wurde der Vater - zusammen mit anderen Deutschen - von tschechischen Revolutionsgarden abgeführt und in diesem Dorf interniert.

Heinrich Polzer
„Dort waren die Männer in einem alten Spritzenhaus eingesperrt und zwar unter ganz engen Verhältnissen, die standen alle. Und ich weiß noch, ich wurde dann - ich war ja fünf Jahre - durchgereicht zu meinem Vater, weil, es war kein Platz zum Laufen und da habe ich ihn das letzte Mal gesehen und gedrückt.“

Im heutigen Dobronin steht noch das Spritzenhaus, in dem Johann Polzer und 14 deutsche Zivilisten damals eingesperrt und misshandelt wurden. In der Nacht des 19. Mai 1945 wurden die 15 Männer von betrunkenen Revolutionsgardisten auf eine Wiese außerhalb des Ortes getrieben, dort ermordet und verscharrt. Ein Racheakt für die Demütigungen und das Leid der Tschechen während der deutschen Besatzung.

Vladislav Brtnicky lebte schon damals im Ort. Sein Cousin war bei der Mordaktion dabei.

Vladislav Brtnicky, Zeitzeuge
„Die Mörder haben bei meinem Cousin geklingelt. Er hat mit seinem Traktor die Deutschen aufs Feld gefahren. Da haben sie noch gelebt, aber konnten nicht mehr laufen. Er sei nicht am Mord beteiligt gewesen, so hat es mir mein Cousin erzählt. Ich habe ihm immer vorgeworfen: ,Damit hast Du Dich mitschuldig gemacht‘.“

Diese Skizze zeigt den mutmaßlichen Ort des Massengrabs von Dobrenz. Josef Niebler hat sie aus der Erinnerung angefertigt. Denn auch sein Onkel wurde im Mai 1945 umgebracht. Der damals Elf-Jährige bemerkte eine frische Aufschüttung auf einer Wiese. Bis August 1945 blieb die Familie noch in Dobrenz - ohne jeden Schutz.

Josef Niebler
„Drei Monate kann man sagen, waren wir ja regelrechtes Freiwild. Man konnte mit den Deutschen machen, was man wollte. Das bewirkte ja auch dieses Benes-Dekret. Und die Leute wurden ja regelrecht aufgehetzt.“

65 Jahre wurden Verbrechen wie der Mord von Dobrenz nicht verfolgt. Denn es galten die nach dem Staatspräsidenten Benes benannten Dekrete. Gerechte Vergeltung, heißt es, ist auch dann nicht widerrechtlich:

Zitat
„…wenn sie sonst nach den geltenden Vorschriften strafbar gewesen wäre.“

Das bedeutet, auch Verbrechen, die nach Kriegsende an deutschen Zivilisten begangen wurden, hat man bisher nicht untersucht und schon gar nicht bestraft.

Doch vor einigen Wochen haben tschechische Polizisten und Gerichtsmediziner die Leichen von mehreren Männern aus dem Massengrab geborgen - an genau dem Ort, der auf Josef Nieblers Skizze verzeichnet ist. Es sind die Opfer der grausamen Mordaktion vom Mai 1945 in Dobrenz.

Damit wird in Tschechien erstmals gegen einen der noch lebenden Tatverdächtigen ermittelt - eine Sensation. Michael Laska von der Kriminalpolizei Jihlava leitet die Untersuchungen in diesem Mordfall.

Michael Laska, Kriminalpolizei Jihlava
„Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Amnestiegesetz hier greift. Denn man muss sich anschauen, dass die Opfer überwiegend Bauern waren. Ein Polizist war dabei, ein Lehrer. Das heißt, hier kann man nicht davon ausgehen, dass die Tschechen im Rahmen ihres nationalen Befreiungskampfes diese Tat verübt haben. Denn diese Opfer hatten nichts mit der Armee zu tun.“

Dass jetzt ermittelt wird, ist in Tschechien nicht unumstritten. Außenminister Schwarzenberg unterstützt die Aufarbeitung.

Karel Schwarzenberg, Außenminister Tschechien
„Ich finde, es ist viel zu spät, aber immerhin. Ich finde, alle Verbrechen, die in diesem unglückseligen 20. Jahrhundert begangen wurden, sollen untersucht werden. Richtig.“

Erst vor kurzem öffentlich gewordene Amateuraufnahmen unterstützen die Forderung nach Aufarbeitung. Prag 1945. Auch hier werden Dutzende deutsche Zivilisten zu Opfern. Nach Schuld oder Unschuld wurde nicht gefragt. Erst werden sie erschossen, dann von einem LKW überrollt, noch Lebende und Tote gleichermaßen. Sie und tausende andere mussten stellvertretend für die mörderische Vernichtungspolitik von Deutschen büßen.

Tschechen waren nicht nur Opfer: einige wurden nach dem Ende des Krieges auch zu Tätern.

Karel Schwarzenberg, Außenminister Tschechien
„Wenn wir uns also nicht mehr gegenseitig die Verbrechen vorwerfen, die die andere Seite begangen hat, sondern offen zugestehen, dass wir alle was… Väter, Großväter an solchen Verbrechen beteiligt waren. Dann schafft es eine klarere Stellung und verändert die Atmosphäre.“

Hier im tschechischen Jihlava wohnt der letzte lebende mutmaßliche Tatbeteiligte: Robert Kautzinger, heute 82 Jahre alt. Vor der Kamera will er sich nicht äußern.

Vladislav Brtnicky, Zeitzeuge
„Wenn Kautzinger betrunken war, hat er in der Kneipe mehrfach verkündet, dass er den Landwirt, bei dem er gearbeitet hat, eigenhändig umgebracht hat. Das habe ich von unterschiedlichen Leuten gehört. Er hat ausgeholt und ihm mit der eigenen Schaufel den Kopf abgehauen.“

Im bayrischen Mertingen erhofft sich Josef Niebler von den tschechischen Ermittlungen Gewissheit über das Schicksal seines Onkels. Er will Aufklärung, nicht Rache:

Josef Niebler
„Für mich bedeutet das einfach nicht einen Hass auf die Tschechen oder sonstige, ja, eh, aufgewühlte Gefühle. Mir geht es eigentlich darum, dass diese Leute eine letzte Ruhestelle finden und die ganze Sache dann abgeschlossen wird.“

Inzwischen erinnert ein Kreuz am Ort des Massakers an die Schreckensnacht, die damaligen Opfer und an das jahrzehntelange Verschweigen in Tschechien. Jan Litavsky, ein Unternehmer aus Dobronin, hat es aufgestellt - als Zeichen der Pietät und des Andenkens.

Jan Litavsky, Unternehmer
„Schon seit meiner Kindheit wurde immer hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen, dass hier etwas passiert sein soll. Und es war ein Tabu, her zu kommen. Wir bekamen gesagt: ‚Geht da mal nicht hin‘. Man hatte also immer eine Ahnung.“

65 Jahre nach dem Kriegsende wird die Aufklärung der Morde von Dobrenz nicht mehr von den Benes-Dekreten behindert.

Karl Schwarzenberg, Außenminister Tschechien
„Ich meine, das ist jetzt im Laufen. Ob es eine Niederschlagung einmal im Parlament haben wird, ist eine andere Sache. Aber gar kein Zweifel ist sozusagen die Fragestellung offen. Und es haben sich verschiedene tschechische Stimmen auch gemeldet, die eine gesunde Distanz zu dem zeigen.“

Denn das Massaker wird jetzt als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet, das nicht verjährt. An vielen Orten in Tschechien gibt es Massengräber wie in Dobronin. Die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen.

Kurz vor unserer Sendung ließ das tschechische Außenministerium erklären, Außenminister Schwarzenberg habe in unserem Interview nicht gesagt, die Aufhebung der Benes-Dekrete sei offen. Das zeigt, wie hochsensibel und brisant das Thema ist.