Günter Schabowski mit seinem Anwalt (Quelle: rbb)
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- Vor dem Urteil: Der Politbüroprozeß

Der Politbüroprozeß kurz vor der Urteilsverkündung gegen Kleiber, Krenz und Schabowski.

Wie weit darf die Führung eines Staates gehen? Kann sie extremes Unrecht zu Recht machen? Darauf muß das Landgericht in Berlin-Moabit am kommenden Montag antworten im Prozeß gegen drei der Mitglieder des SED-Politbüros, dem höchsten Herrschaftsorgan über die DDR. Hätten Krenz, Schabowski und Kleiber das blutige Handwerk an der Grenze verhindern können? Die Angeklagten ziehen sich zur Verteidigung hinter "unabänderliche Faktoren", den kalten Krieg zum Beispiel, zurück. Und der hat - natürlich - auch den Befehl gegeben, zu schießen.


Befragung von Zuschauern
Zuschauer 1: "Dieser Prozeß ist ja ein politisch- ideologischer Prozeß und da stehe ich auf der Seite von Egon Krenz. Da stehe ich auf der Seite derer, die dafür angeklagt worden sind, daß sie eine Alternative zum Kapitalismus gewagt haben.
Frage: "Was halten Sie persönlich von Egon Krenz? Hat er seine Rolle gut ausgeführt?"
Zuschauer 2: "Der spielt hier keine Rolle. Der vertritt hier das, die Arbeiter und Bauern die ganzen Jahre gebaut haben, 40 Jahre DDR."
Zuschauer 3: "Was Krenz sagt, ist auch meine Meinung. Was diese Siegerjustiz hier von sich gibt, das hat mit uns nichts zu tun."

Diese Woche vor dem Landgericht Berlin Moabit. Die treuesten Genossen wollen den letzten Staats- und Parteichef der DDR nicht im Stich lassen.

Frage: "Was wird denn Ihr Schlußwort sein, Herr Krenz?"
Egon Krenz: "Hören wir es erst mal an."

Egon Krenz. Früher der Parteichef, der Staatschef. Zuständig für Sicherheitsfragen, Mitglied des Politbüros. Jetzt angeklagt wegen der Todesschüsse an der Mauer.

Günter Schabowski. Früher Erster Sekretär der Ostberliner Parteileitung. Mitglied des Politbüros. Jetzt angeklagt wegen der Todesschüsse an der Mauer.

Günther Kleiber. Früher in der SED-Führung zuständig für Wirtschaftsfragen. Mitglied des Politbüros. Jetzt angeklagt wegen der Todesschüsse an der Mauer.

Eines der Opfer: der 19jährige Chris Gefroy. An dieser Stelle wollte er in den Westen flüchten. Ein halbes Jahr vor der Öffnung der Mauer. Die Flucht mißlang. Gefroy wurde von den Grenzsoldaten erschossen.

Karin Gueffroy, Mutter, 1990
"Das war ein ganz gezielter Schuß. Denn es ist ja ein ganzes Magazin rausgeknallt worden. Wir haben ja nachts die Schüsse gehört. Und Chris hat ja 'nen Herzmuskelriß, also ist er richtig gezielt erschossen worden... Im Prinzip klage ich den Staat an."

Der Staat - das war das SED-Politbüro. Die Machtzentrale der DDR.
22 Mitglieder trafen sich hier jede Woche unter der Leitung von Erich Honecker - zuletzt von Egon Krenz. Hier wurden sämtliche wichtigen Entscheidungen gefällt. Die Mitglieder des Politbüros faßten auch Beschlüsse über das Grenzregime.

Den Tod von Chris Gueffroy führt die Staatsanwaltschaft auf die Beschlüsse des Politbüros zurück.
Vor Gericht müssen sich nur noch drei Politbüromitglieder verantworten. Die übrigen sind verstorben oder wegen Krankheit ausgeschieden.

Für Günther Kleiber sind siebeneinhalb Jahre Haft beantragt. In seinem Schlußwort entgegnet er: "... hier sitzt kein Politbüro auf der Anklagebank, sondern drei Menschen, die in diesem Gremium unterschiedliche Kompetenzen hatten."
Der Wirtschaftsmann Kleiber hält sich für nicht zuständig, strafrechtliche Verantwortung für die Todesschüsse lehnt er ab.

Günter Schabowski will von den Todeschüssen erst aus der Westpresse erfahren haben. Die Staatsanwaltschaft fordert für ihn 9 Jahre Haft. In seinem Schlußwort entschuldigt er sich: "Mein Umdenken und mein Tun hat zu spät eingesetzt, das stimmt. Immerhin hatte es gereicht, ... , die Mauer gegen Widerstand und Skepsis im Politbüro zu öffnen ..."
Schabowski fühlt sich moralisch schuldig, strafrechtliche Verantwortung für die Todesschüsse lehnt er jedoch ab.

Egon Krenz soll 11 Jahre in Haft. In seinem Schlußwort rechtfertigt er das Grenzregime zum Schutz des Sozialismus: "Ich habe aufrichtig eine neue, antifaschistische, sozialistische Gesellschaftsordnung gewollt und das bessere Deutschland stets in der DDR gesehen."
Krenz fühlt sich als Opfer einer Siegerjustiz. Strafrechtliche Verantwortung für die Todesschüsse lehnt er ab.

Karin Gueffroy, Mutter, 1990
"Es gab soviel Tote an der Mauer. Und das sollte man nicht vergessen. Es gibt so viele Eltern, die darüber so unglücklich geworden sind. Ich glaub schon, daß man von diesen Leuten Rechenschaft abverlangen kann, muß sogar."

Egon Krenz
"Ich habe bedauert, daß ich Tote an der Grenze nicht verhindern konnte und habe mich bemüht, die Zeitumstände zu schildern."

Das waren noch Zeiten

Delegiertenkonferenz der Grenztruppen 13.1.86 (Archivmaterial)
"Unter Führung der Partei der Arbeiterklasse haben die Grenzsoldaten ihren Auftrag ehrenvoll erfüllt. Von den Delegierten herzlich begrüßt Egon Krenz, Mitglied des Politbüro und Sekretär ZK der SED."

Egon Krenz: Man darf das wohl sagen im wahrsten Sinne des Wortes die große Initiativen zur Vorbereitung unseres Parteitages bekräftigen uns in der Gewißheit, daß wir auf klarem, auf sicherem Kurs sind."

Krenz bei Rosa-Luxemburg-Demonstration (Akturelle Kamera 17.01.1988)
"Wenn Du den Frieden willst, mußt Du den Sozialismus bereiten, findet sich wieder in unserer Massenbewegung 'Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz für den Frieden."

Egon Krenz
Frage:
"Herr Krenz, glauben Sie, ins Gefängnis zu müssen nächste Woche?"
Egon Krenz: "Jetzt gehe ich erst einmal zu meinen Freunden."
Frage: "Wer sind denn Ihre Freunde?"
Egon Krenz: "Meine Freunde sind viele Leute, sehr viele, kann ich nicht alle aufzählen."

Günther Kleiber
"Wenn das Urteil, wenn dieses Gericht zu der Frage kommt, meine Verantwortung, die ich hatte, ist auch ausreichend, dann muß ich mich dem Urteil beugen, dann gehe ich in das Gefängnis."

Kleiber bei Ceausescu (Aktuelle Kamera vom 02.10.1986)
"In dem freundschaftlichen Gespräch übermittelte Günther Kleiber die brüderlichen Grüße Erich Honeckers, die von Nicolai Causescu auf's herzlichste erwidert wurden."

Günter Schabowski
Frage:
"Herr Schabowski?"
Günter Schabowski: "Ich habe alles gesagt, was zu sagen ist."

Günter Schabowski bei einer Parteiaktivtagung (Aktuelle Kamera vom 20.10.1988)
"Fest geschart um unser Zentralkomitee und unseren Generalsekretär Genossen Erich Honecker setzen wir unsere Arbeit fort, dem Wohle des Volkes zu dienen, den Sozialismus stark und attraktiv zu machen, und damit den Frieden gesichert und dauerhaft zu gestalten."

Das waren noch Zeiten.

Günter Schabowski
Frage:
"Wie haben Sie das empfunden?"
Günter Schabowski: "Aus. Nein, ich habe doch meine Bemerkungen gemacht. Sie sind doch Journalisten. Ich bin auch Journalist gewesen. Da paßt man auf und hört zu."

Egon Krenz
Frage:
"Herr Krenz, war das heute Ihre Abschiedsrede als Staatsmann oder als Angeklagter?"
Egon Krenz: "Ich habe mich hier verhalten, wie ich mich auch in der DDR verhalten habe. Aufrichtig, ehrlich, und kann die Demagogie, mit der dieses Thema von bundesdeutschen Politikern benutzt wird, nicht verstehen."

Karin Gueffroy, Mutter
"Krenz ist nicht fähig, darüber nachzudenken, was habe ich verkehrt gemacht, was ist überhaupt in dieser Zeit passiert, warum sind so viele Menschen davongelaufen, warum gab's so viele Tote, was habe ich eigentlich gemacht. Und nicht darüber nachzudenken. Das ist für mich eigentlich schade."

Egon Krenz wird vor dem gerichtsgebäude von Freunden und Anhängern begrüßt.

Karin Gueffroy, Mutter
"Wir können nicht ewig Prozesse führen, wir können nicht ewig darüber urteilen, wer was gemacht hat. Aber die Leute, die dafür hauptverantwortlich sind, das ist mir schon ein Bedürfnis, daß diese Leute zur Verantwortung gezogen werden. Und ich denke nicht, daß das irgendwas mit Rache zu tun hat, das hat einfach was mit Gerechtigkeit zu tun. Das hat nichts mit Rache zu tun. Und auch nichts mit Siegerjustiz."

Nach neuesten Feststellungen sind über 900 Menschen an den Grenzen der DDR zu Tode gekommen, weil Reisefreiheit und Freizügigkeit nicht gewährt wurden.
KONTRASTE hat in einer repräsentativen Umfrage mit dem Forsa-Institut erkundet, welche Reaktionen der Prozeß bewirkt und wir haben auch gefragt, ob mit dem Urteil am kommenden Montag ein Schlußpunkt unter die Strafverfolgung gesetzt werden soll.