Polizeidirektion (Quelle: rbb)

- Auf dem rechten Auge blind? Ermittlungspannen in Halberstadt

Anfang Juni werden Schauspieler des Musicals «Die Rocky-Horror-Show» in Sachsen-Anhalt besonders brutal überfallen. Eine Gruppe von Neonazis ging auf die Theatergruppe aus Halberstadt los, mehrere Mitglieder wurden schwer verletzt. Der Prozess gegen vier rechte Schläger bringt mehr polizeiliche Ermittlungspannen als –erfolge ans Tageslicht. Und die Justiz setzt die Täter während des Prozesses wieder auf freien Fuß. Für die Opfer ist das alles wie eine Horror-Show.

In welcher Situation würden Sie die 110 wählen? Wenn sie in Not sind, wenn Sie Hilfe benötigen, wenn Sie die Polizei ganz dringend brauchen. Das Letzte, was man in so einem Moment von einem Polizisten erwartet, ist Gleichgültigkeit. Doch anders sind die Ereignisse in einer Stadt in Sachsen-Anhalt nicht zu erklären. KONTRASTE liegt brisantes Material vor, das belegt, wie ein Polizeieinsatz bei einem Überfall von Neonazis zu einem Fiasko wurde. Caroline Walter und Alexander Kobylinski berichten.

Gestern morgen: Amtsgericht Halberstadt. Vier Rechtsextreme sind angeklagt wegen gefährlicher Körperverletzung. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder des Halberstädter Theaters angegriffen zu haben. Doch für die Angeklagten sieht es prima aus, denn die Beweislage ist schlechter als sie sein könnte.

Bei der Polizei gab es Ermittlungspannen ohne Ende. Das bestätigt ein interner Untersuchungsbericht. Er wurde uns von einem Informanten aus Polizeikreisen zugespielt. Detailliert wird darin geschildert, wie schlampig und fahrlässig die Polizei gearbeitet hat:

Es beginnt in einer Juninacht um 3 Uhr morgens. Nach einer Theater-Aufführung wollen Schauspieler und Tänzer verschiedener Nationalitäten noch etwas trinken gehen. Dabei laufen sie ahnungslos einer Gruppe Rechtsextremer in die Arme. Sie werden brutal zusammengeschlagen, mit Springerstiefeln traktiert. Ein Opfer wird bewusstlos geprügelt.
Eine Frau aus dem Theaterensemble setzt einen Notruf an die Polizei ab. Im Untersuchungsbericht ist der Anruf protokolliert:
Zitat:
„Bitte kommen Sie schnell zur Spiegelstraße ... sonst prügeln die uns alle tot ... hier sind Nazis, die prügeln alle runter.“
„Wie viele Leute sind denn das?“
„Ich weiß nicht! 20! Keine Ahnung...“


Ein zweiter Notruf gleich danach spricht von mindestens zehn Angreifern.
Trotz dieser Information schickt die Einsatzleitung nur zwei Streifenwagen los. Viel zu wenig, um das ganze Geschehen in den Griff zu bekommen. Am Tatort treffen die Beamten auf eine Menge von etwa 40 Menschen.

Das Absurde: die Polizisten nehmen lediglich die Personalien der Opfer auf - während noch einige Täter vor Ort sind. Alexandra vom Halberstädter Theater hat die Situation erlebt.

Alexandra
“Wir haben die Polizei darauf hingewiesen, dass die Täter noch vor Ort sind. Ja, die Polizisten haben das aber ignoriert und haben sich um die einfachen Dinge, sag ich mal, gekümmert. Es war denen sozusagen egal, dass die Täter da noch stehen und dass sie die locker hätten kriegen können, die sie aber nicht wollen, weil, ja, die sind einfach bei uns geblieben. Unsere Personalien waren wichtiger, die wurden auch drei-, viermal aufgenommen, statt die zwei Meter da zu den Tätern zu gehen.“

Die Täter spazieren davon. Später kommt einer der Angreifer mit dem Fahrrad sogar zum Tatort zurück, Zeugen fordern die Beamten auf, zu reagieren. Die halten ihn an. Die Polizisten erkennen ihn wieder, weil er ein polizeibekannter Rechtsextremer ist. Trotzdem lassen sie ihn einfach weiterfahren.

Die Pannenserie geht weiter. Die Polizei sichert den Tatort nicht ab. Stattdessen werden Streifenwagen wieder abgezogen.

Wenig später ruft eine Zeugin erneut per Notruf die Polizei.
Zitat:
„Wir haben jetzt hier gesehen ein paar Täter, die laufen jetzt hier rum und die Polizei ist weggefahren ...“
„Wie viele Leute sind das?“
„Ungefähr vier ...“
„Ja, alles klar.“


Doch die Polizei ist zu langsam, das geht aus dem Untersuchungsbericht hervor. Auch diesmal entwischen die Verdächtigen. Eine Streife hatte sich um einen Unfall mit einer Katze gekümmert.

Im Krankenhaus werden fünf Opfer mit teils lebensgefährlichen Verletzungen versorgt. Ein Polizist ist auch da. Die Opfer machen ihm Vorwürfe. Er ruft die Einsatzleitung an. Auszug aus dem Gespräch:
Zitat:
„Nach dem Motto … wir machen nichts … und all so ne Scheiße geht das schon hier los … und geht auf jeden Fall an die Presse … und dann kriegt Halberstadt ein Imageproblem.“
„Aha.“
„… hier ist auch ein Franzose bei.“
„Ach auch noch.“
„Ja auch verletzt ...“
„Na toll!“


Der polizeiinterne Untersuchungsbericht kommt zu dem Ergebnis:
Zitat:
„Bereits nach Eingang der beiden Notrufe … lagen … ausreichende Lageerkenntnisse vor, die die Brisanz des Sachverhaltes, mögliches Vorliegen einer politisch motivierten Straftat, erkennen ließen.“

Das vernichtende Urteil: Ein Gesamtversagen auf allen Ebenen. Mit KONTRASTE will die Polizeiführung darüber aber nicht reden.

Nur dem Zufall ist es zu verdanken, dass jetzt überhaupt vier Beschuldigte vor Gericht stehen. Weil dieser Angeklagte mit dem Fahrrad zum Tatort zurückkam und später Namen seiner Kumpel aus der Gruppe angab.

Doch vor Gericht geht der Irrsinn weiter.

Dass die Rechtsextremen alle verurteilt werden, ist nicht sicher. Denn der Richter hat eine folgenschwere Entscheidung getroffen. Er findet: das Ganze sei kein Angriff einer Gruppe, also die Tatverdächtigen hätten nicht gemeinschaftlich gehandelt.

Absurd, so Stephan Martin, der Anwalt der Opfer. Rechte Schläger können bei solchen Angriffen oft nur verurteilt werden – wenn der Paragraph „gemeinschaftlich handelnd“ angewendet wird.

Stephan Martin, Anwalt Nebenkläger
„Wenn ich als Opfer von einer Gruppe angegriffen werde, mich mehrere Täter schlagen und treten, schütze ich mich und habe natürlich auch überhaupt nicht die Zeit, mir vorher jedes einzelne Gesicht der Angreifer einzuprägen. Und der Gesetzgeber hat zu Recht gesagt, beim einem solchen gemeinschaftlichen Vorgehen, muss sich jeder das Handeln des anderen zurechnen lassen und wir brauchen gar nicht die Feststellung, hat der eine hierhin getreten, hat der andere dorthin getreten, sondern es reicht völlig aus, die Feststellung, er war in der Gruppe und hat das mit gewollt.“

Wenn der Richter diesen Überfall nicht als Tat einer Gruppe sieht, drohen am Ende Freisprüche.

Gerade wurden die Angeklagten aus der Untersuchungshaft entlassen – obwohl alle vorbestraft sind und bereits unter Bewährung stehen, auch wegen Gewalttaten. Sie gehören der harten rechten Szene an. Beim Prozess kam heraus, drei von ihnen tragen tätowierte Hakenkreuze.

Für die Opfer aus dem Theaterensemble ist der Prozess ein Albtraum. Sie laufen den Tätern jetzt in der Stadt wieder über den Weg. Einige haben ihren Arbeitsvertrag gekündigt, wollen weggehen. Tänzer Timo versucht weiterzumachen, aber der Überfall wird ihn noch lange verfolgen.

Timo
„Ich trau mich nachts schon gar nicht mehr raus. Alleine geh ich ungerne wohin, auch am Tag, und wenn meine Freundin mit dem Hund draußen ist, dann sitz ich im Wohnzimmer und fang an zu zittern oder geh dann lieber mit, um da nicht noch irgendwas geschehen zu lassen, also nicht dass da irgendwie noch was passiert oder so was. Da habe ich einfach zu große Angst vor.”

Vom Prozess erwarten die Opfer nichts mehr. Der Richter äußert sich zu dem Fall nicht. Er stand in der Vergangenheit wegen seiner milden Urteile gegen Rechtsextreme in der Kritik.

Und die Angeklagten – sie fühlen sich sicher.