Opfer und Mutter auf einer Bank an einem See (Quelle: rbb)

- Hilflose Opfer - Thüringer Justiz in Erklärungsnöten

Nach dem vermeintlich rechtsextremistischen Anschlag auf den Passauer Polizeichef Mannichel reagierte die Bayrische Polizei mit einer Sonderkommission. Davon kann Martin nur träumen: vor einem Jahr wurde er im ostthüringischen Berga von Rechtsextremen so schwer verprügelt, dass er sein Leben lang an den Folgen leiden wird. Erst als KONTRASTE vor einigen Tagen nachfragte, begann die Staatsanwaltschaft endlich tätig zu werden und Anklage zu erheben.

In den vergangenen Wochen übertrafen sich die Politiker beim Thema Rechtsextremismus. Ausgelöst durch das Messer-Attentat auf den Passauer Polizeichef Alois Mannichl. Auch wenn in dieser Angelegenheit noch viele Fragen offen sind. Bei besonderen Fällen funktioniert es auf einmal: Die Justiz reagiert, Zeitungen und Fernsehen berichten und Politiker melden sich mit immer neuen Vorschlägen zu Wort. Was aber geschieht, wenn jemand Opfer rechter Gewalt wird, der weder eine wichtige Funktion bekleidet noch in irgendeiner Form prominent ist? Caroline Walter und Alexander Kobylinski über einen Fall, der normalerweise kaum in den Medien auftauchen würde.

Martin hat großes Glück, dass er überhaupt noch lebt. Vor einem Jahr haben ihn Rechtsradikale angegriffen und schwer verletzt. Der 20-Jährige braucht noch Hilfe. Seine Mutter kümmert sich um ihn.

Mutter
„Martin hatte ein schwerstes Schädel-Hirn-Trauma von der Straftat bekommen und lag drei Wochen im Koma. Ihm haben sie den Schädel geöffnet, den Schädelknochen rausgenommen und ja, nach drei Wochen haben sie ihn aus dem Koma geholt. Und da sah es natürlich gar nicht gut aus.“

Martin musste sechs Monate in der Reha-Klinik alles wieder neu lernen - laufen, sprechen, essen. Seine Feinmotorik ist für immer verloren, das Zittern der Hände wird ihm bleiben. Die Verletzungen haben seine Lebensplanung kaputt gemacht.

Martin
„Ich hab’ meine Lehre verloren. Ich hab’ meine Wohnung verloren. Ich hab’ da Ärger, ich hab’ da Ärger, für eine Sache, für die ich nichts kann.“

Vor einem Jahr in der ostthüringischen Kleinstadt Berga. In der Stadthalle ist ein Fest. Bilder von diesem Abend. Auch eine Gruppe Rechtsradikaler ist anwesend, wie so oft. Als Martin gerade nach Hause gehen will, trifft er auf sie vor der Tür. An seiner Kleidung ist er als linker Jugendlicher zu erkennen. Er wird gepackt und ein gezielter Schlag trifft Martin am Kopf. Er stürzt nach hinten, bleibt bewusstlos liegen.
Ein Freund versucht ihm zu helfen. Er wird von den Rechtsradikalen bedroht.

Zeuge
„Der eine, der direkt daneben stand, hat gesagt, dass ich nicht wüsste, mit wem ich mich da anlege, wenn ich mich weiter einmische. Und einer von weiter weg hat gerufen, er hätte noch mal reingetreten und ich soll ihn liegen lassen.“

Martins Erinnerung an den Abend ist durch das Schädel-Hirn-Trauma gelöscht. Trotzdem werden die Täter schnell ermittelt. Denn ein unabhängiger Zeuge hat die Tat gesehen.

Doch der Fall blieb bei der Staatsanwaltschaft liegen - fast ein Jahr.
Martin und seine Mutter kommen nicht zur Ruhe. Bis heute gab es keinen Prozess gegen die Täter.

Mutter
„Ich hab’ das auch nie erwartet, dass das so lange dauert. Ich kann mir auch nicht denken, dass nach so einer schweren Straftat die Täter überhaupt noch auf freiem Fuß sind. Das ist halt ganz schlimm.“

Als wir davon erfahren, rufen wir die Staatsanwaltschaft in Gera an, fragen, warum es so lange dauert. Die Auskunft: Der Fall sei noch nicht abgeschlossen, es sei noch keine Anklage erhoben.

Zwei Tage später haken wir nach: Jetzt habe man Anklage erhoben, so die Auskunft. Erst unser Interesse an dem Fall scheint endlich Aktivität auszulösen.

Und man hat jetzt eine Erklärung parat, warum es ein Jahr gedauert hat.

Ralf Mohrmann, Sprecher Staatsanwaltschaft Gera
„Der Geschädigte kann sich leider zum Sachverhalt nicht erinnern. Wie ich Ihnen bereits dargelegt habe, musste erst einmal abgewartet werden, ob denn bei dem Geschädigten die Erinnerung an den Vorfall wieder kommt.“

Andreas Müller ist Jugendrichter. Er ist bekannt dafür, schnell und konsequent bei rechten Straftaten durchzugreifen. Für ihn ist es nicht nachvollziehbar, einen Fall so lang liegen zu lassen und zu warten, ob sich das Opfer erinnert.

Andreas Müller, Jugendrichter, Bernau/Brandenburg
„Wenn das nicht absehbar ist, wie in den meisten Fällen, dann muss man schauen, welche weiteren Beweismittel hat man vorliegend. Sind das unabhängige Zeugen, Zeugen, die dabei gestanden haben, die das Geschehen schildern können... Insoweit könnte man wesentlich früher Anklage erheben.“

Es kommt noch schlimmer: Obwohl die Staatsanwaltschaft Gera bestätigt, dass die Täter der rechten Szene angehören, sieht sie bei der Tat aber keinen rechtsradikalen Hintergrund. Absurd.

Ralf Mohrmann, Sprecher Staatsanwaltschaft Gera
„Eindeutig rechtsradikaler Hintergrund liegt dann vor, wenn die Täter auch das entsprechende Motiv kundgetan haben. Das ist vorliegend aber nicht erfolgt.“

Im Klartext: Wenn Rechtsradikale nicht damit prahlen, einen Linken zusammengeschlagen zu haben, dann ist es keine rechte Straftat.

Dabei wurde Martin schon früher immer wieder von Rechtsradikalen aus der Gruppe der Angreifer angepöbelt und bedroht. Sie kannten ihn, das geht aus den Ermittlungen hervor – er passte in ihr Feindbild.

Martin
„Sie hatten mich auf jeden Fall auf dem Kieker, weil ich auffällig gekleidet war, dass ich zu einer anderen politischen Richtung gehöre. Dadurch hatten sie mich sowieso auf dem Kieker.“

Sie kennt das Problem. Christel Wagner-Schurwanz betreut in der Region Opfer rechter Gewalt. Martins Erfahrung mit den Ermittlungsbehörden kann sie nur bestätigen.

Christel Wagner-Schurwanz, Opferberatung „AUFANDHALT“ Gera
„Dieser Fall ist für uns gar kein Einzelfall, dass hier auch der rechtsradikale Hintergrund weggelassen wird. Wir beobachten das seit zwei Jahren, dass es immer häufiger geschieht und haben mittlerweile den Eindruck, dass es fast eine generelle Angelegenheit ist, dass gesagt wird, einen rechtsradikalen Hintergrund gab es hier nicht.“

Ihr Verdacht: Thüringen will nicht in Verruf geraten in Sachen rechter Gewalt.

Christel Wagner-Schurwanz, Opferberatung „AUFANDHALT“ Gera
„Ich habe den Eindruck, dass der rechtsradikale Hintergrund bei vielen Angriffen rechtsextremer Gewalt weggelassen wird, um die Statistik zu verschönern. Es gibt für mich keinen anderen Grund da drin zu sehen. Für die Opfer ist das natürlich ganz, ganz schlimm. Sie fühlen sich doppelt oder fast dreifach allein gelassen.“

Denn eine Folge ist auch: Die Opfer von rechter Gewalt haben dann keinen Anspruch auf finanzielle Entschädigung aus einem staatlichen Hilfsfonds. Seit zwei Jahren werden die Anträge nur noch abgelehnt, so die Opferberatung.

Martins Mutter macht sich Sorgen, wie es weitergeht, welche Chancen ihr Sohn wegen seiner Behinderung überhaupt noch hat. Während die Täter noch immer nicht bestraft wurden.

Mutter
„Dass das Opfer auch zu seinem Recht kommt, das ist ja auch wichtig. Denn nach so einem schweren Fall hat man ein Trauma, und das muss man verarbeiten. Ob ich das bin oder Martin. Und wenn da keine Gerechtigkeit ist, dann kann man das nicht verarbeiten, das kann man nicht.“