- Von Neonazis fast zu Tode geprügelt – versagt die Justiz in Sachsen-Anhalt?

Das schöne Sachsen-Anhalt eine Schutzhütte für rechtsextreme Schläger? Diese Unterstellung weisen verantwortliche Landespolitiker weit von sich. Schnell und konsequent gehe man im Lande gegen rechtsradikale Straftäter vor. Justizminister Becker (CDU) behauptet gar: „Wir greifen erbarmungslos zu!“. Doch davon ist nicht viel zu spüren. Einige gewalttätige Rechtsextreme werden in Sachsen-Anhalt immer noch mit Samthandschuhen angefasst, das haben die KONTRASTE-Reporter Caroline Walter und Alexander Kobylinski erfahren.

Sonntag: Super-Wahltag in drei Bundesländern. Eines ist Sachsen-Anhalt. Zu wenige Jobs, zu wenig Geld, zu wenige Investitionen dort… und zu viele Neonazis. ‚Tendenz steigend’, warnt der Verfassungsschutz – die Entschlossenheit der Politiker, das hässliche Problem anzugehen: Tendenz fallend. Caroline Walter und Alexander Kobylinski kommen von einer deprimierenden Reise zurück.

Wahlkampf in Sachsen-Anhalt. Das ist CDU-Ministerpräsident Wolfgang Böhmer. Mit der Bundeskanzlerin besucht er eine Kuchenfabrik. Auf die richtige Backmischung kommt es an und auf die schönen Reden.

Prof. Wolfgang Böhmer (CDU), Ministerpräsident Sachsen-Anhalt
„Dort, wo wir erfolgreich sind, möchten wir auch erfolgreich bleiben.“

Über ein Problem in Sachsen-Anhalt mag der Landesvater nicht gerne sprechen – den Rechtsextremismus. Der hat in seinem Land wieder stark zugenommen – aber darüber Reden ist nicht gut fürs Image. Fragen zu diesem Thema verderben ihm die Laune.

Prof. Wolfgang Böhmer (CDU), Ministerpräsident Sachsen-Anhalt
„Ich hab schon gemerkt, dass Sie irgendetwas Besonderes für Ihre Sendung brauchen, wo wir ein bisschen angepinkelt werden. Wir tun alles, was mit rechtsstaatlichen Methoden möglich ist.“

Sebastian aus Halberstadt glaubt das nicht mehr. So sah er aus, als er von einer Gruppe Neonazis überfallen und fast tot geprügelt wurde. Seitdem fühlt er sich nicht mehr sicher in der Stadt, in der Rechtsextreme immer wieder zuschlagen.

Sebastian
„Ich hab Probleme, wenn Leute hinter mir gehen oder stehen oder ich kann niemanden mehr im Rücken haben, weil ich immer Angst habe, dass ich von hinten auf einmal angegriffen werde.“

Sebastian stand nach einem Konzert vor diesem alternativen Jugendzentrum. Eine Gruppe Rechtsradikaler schlich sich an ihn heran. Mit Flaschen schlagen sie auf ihn ein. Und immer wieder Tritte gegen den Kopf. Sebastian erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma, einen Riss in der Schädeldecke. Und verliert fast ein Auge.

Die Tatverdächtigen kommen vors Amtsgericht Halberstadt. Einer von ihnen ist Peter Karich, ein stadtbekannter Neonazi. Nach dem Überfall findet die Polizei in seiner Wohnung Nazifahnen, Hitlerbüsten und rechtsextreme CDs. Peter Karich ist nicht irgendjemand. Er ist Sänger der Band Skinheads Sachsen-Anhalt. Auf den CDs singt er unverhohlen von seinem Hass auf alle, die nicht rechts sind:
Zitat:
„Wenn wir dann da sind, wir wollen Euch nicht, und Euch zu töten ist unsere Pflicht...“

Karich singt nicht nur von Gewalt, seit über zehn Jahren begeht er immer wieder schwere Straftaten. Aber: Immer wieder bekommt er Bewährung vom Amtsgericht Halberstadt. Damit nicht genug: Immer wieder werden Verfahren gegen ihn einfach eingestellt.

Wie im Fall von Sebastian. Sein Albtraum nach dem Überfall geht weiter. Denn für den Angriff wird Neonazi Karich nicht bestraft. Das Verfahren gegen ihn wurde vorläufig eingestellt. Obwohl eine Zeugin ihn gleich nach der Tat eindeutig identifiziert hat. Begründung des Gerichts: Man wolle stattdessen andere Straftaten von Karich verfolgen. Aber verurteilt ist er bis heute nicht.

Sebastian glaubte, das Gericht würde ihn schützen.

Sebastian
“Was soll ich machen sonst, außer vor Gericht. Und wenn die mir nicht helfen, wenn die nicht mein Recht vertreten, kann ich nichts machen. Und diese Ohnmacht, die bestätigt dasselbe noch mal, dieselbe Ohnmacht, die ich erlebt habe als ich zusammengeschlagen wurde. Diese totale Hilflosigkeit, sich nicht wehren zu können, einfach ausgeliefert zu sein, und genauso ausgeliefert bin ich der Justiz auch.“

Seit einem Jahr kämpft Sebastians Vater gemeinsam mit seinem Sohn gegen die Entscheidung der Justiz - ohne Erfolg.

Vater
„Dieser Typ läuft frei rum, ja, der läuft frei rum und man wartet quasi auf die nächste Straftat, die er begeht.“

Der zuständige Richter will sich zu dem Fall nicht äußern.

Wir fahren zum nächsten Wahlkampftermin in einem Landgasthof – der Justizminister von Sachsen-Anhalt, Curt Becker, ist gekommen. Im Hinterzimmer will er noch Wähler mobilisieren. Der Justizminister plaudert von den angeblichen Erfolgen gegen Rechtsextremismus, obwohl die Zahl der Straftaten stark zugenommen hat.

Curt Becker (CDU), Justizminister Sachsen-Anhalt
„Was die Landesregierung anlangt, so sind wir auf diesem Auge sehr wachsam, auf dem rechten Auge. Wir greifen hier erbarmungslos zu, wir schlagen hier erbarmungslos zu und haben hier auch keinen Anlass irgendwie zur Nachsicht.“

Sein Slogan: Nur „Schnelles Recht ist gutes Recht.“

Doch von schnellem Handeln gegen rechtsradikale Straftäter kann in Sachsen-Anhalt oft nicht die Rede sein.

Amtsgericht - Wernigerode. Hier steht der Rechtsextreme Emanuel Reuter vor Gericht. Wegen gefährlicher Körperverletzung. Acht Menschen hat er zusammengetreten – mit Springerstiefeln. Keiner hat ihn gestoppt. Polizei und Justiz haben den Neonazi lange gewähren lassen.

Juni letztes Jahr: Reuter greift diesen Jugendlichen grundlos auf einem Zeltplatz an. Er hat immer noch Angst, will nicht erkannt werden. Der Rechtsextreme trat mehr als zehn Mal mit Springerstiefeln auf ihn ein, verletzte ihn so schwer, dass er ein Loch in der Wange hatte.

Opfer
„Danach wurde ich halt ins Krankenhaus gebracht und dann kamen die Polizisten und haben von mir die Anzeige aufgenommen. Da konnte ich gleich den Täter identifizieren. Und die Polizisten kannten den Täter auch.“

Doch die Polizei bleibt untätig, nichts passiert, obwohl der Neonazi wegen früherer Gewalttaten bereits unter Bewährung steht.

Reuter schlägt schon wieder zu. Das Opfer erleidet ein Schädelhirntrauma und wird für immer eine Hörschädigung behalten. Wieder wird Neonazi Reuter als Täter identifiziert. Doch wieder passiert nichts bei der Polizei.

September: Reuter tritt und schlägt mit unglaublicher Brutalität jeden zusammen, der ihm über den Weg läuft und nicht in sein Weltbild passt. Vier Opfer allein in dieser Nacht.

Dominik ist eines davon. Wochenlang konnte er den Kiefer nicht bewegen. Er versteht nicht, warum es überhaupt so viele Opfer geben musste.

Dominik
„Hätte die Polizei vorher eingeschritten und das Gericht vorher ihn irgendwie verurteilt, dann hätte es nicht passieren müssen. Aber weil jeder zugeguckt hat, ist es halt passiert.“

Die Polizei lässt Anzeigen monatelang liegen, und die Staatsanwaltschaft wartet ab statt den Täter in Haft zu nehmen.

Wir konfrontieren die zuständige Polizeidirektion Halberstadt mit diesem Versagen.

Christiane Marschalk, Polizeipräsidentin Halberstadt
„Ich habe hier in meiner Behörde eine Überprüfung des gesamten Falles veranlasst. Ich kann zum heutigen Zeitpunkt noch nicht sagen, ob es, ob die Voraussetzungen für eine Festnahme schon im Juni vorlagen. Wenn dem so gewesen sein soll, werden wir dem hier nachgehen, das auswerten, notfalls auch mit der nötigen Konsequenz disziplinar-rechtlicher Maßnahmen.“

Doch die rechte Szene hat längst das falsche Signal bekommen. Auf der jüngsten Demo marschiert auch die Neonazi-Truppe mit, zu der Reuter gehörte. Sie kündigen hier an, dass sie die Region braun machen wollen.

Opfer von rechter Gewalt wie Dominik haben kein Vertrauen mehr in Polizei und Justiz.

Dominik
„Jeder weiß Bescheid, was hier los ist, aber keiner macht was. Also sehe ich das eigentlich nicht ein, dass ich ein Opfer der rechten Gewalt geworden bin, sondern eigentlich mehr ein Opfer des Rechtsstaates hier. Das halt Leute einfach nur zugucken, was die machen ohne halt einzuschreiten.“

Aber solche Geschichten will der Ministerpräsident im Wahlkampf ja nicht gerne hören. Und überhaupt scheint die Landesregierung andere Prioritäten zu setzen – wie ein Blick ins Wahlprogramm verrät. Da findet sich nur ein allgemeiner Satz zu linken und rechten Extremisten. Dafür aber ein ganzer Maßnahmenkatalog, wie man dem islamistischen Terrorismus in Sachsen-Anhalt entgegentreten will. Komisch nur, Islamisten findet man in diesem Bundesland so gut wie keine.