Stethoskop (Quelle: rbb)
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- Gefahr für Patienten - Keine unabhängigen Pharmastudien in Deutschland

In Deutschland gilt der Grundsatz: Forschung über die Anwendung von Arzneimitteln ist allein Sache der Pharmahersteller. Für unabhängige Studien gibt es kein Geld. Deshalb bleiben wichtige Fragen etwa zur Dosierung oder zur Dauer der Einnahme von Medikamenten ungeklärt. Hauptsache, der Umsatz der Pharma-Firmen stimmt. Leidtragende sind auch die Patienten.

Eine ungeheuerliche Nachricht: Vielen Patienten könnten schwere Nebenwirkungen mancher Therapien erspart bleiben, wenn die Dosierung oder die Dauer der Behandlung verringert würden. Das legen jedenfalls nach KONTRASTE-Recherchen Studien aus dem Ausland nahe. Doch warum, haben wir uns gefragt, gibt es solche Studien nicht bei uns? Ursel Sieber zeigt, wohin es führt, wenn man sich ganz auf den guten Willen der Pharmaindustrie verlässt.

Peter von der Weiden war erst 59 Jahre alt und tief geschockt, als ihm der Arzt die Diagnose überbracht hat: Darmkrebs. Er kam ins Krankenhaus, der Tumor wurde entfernt. Danach hieß es Chemotherapie. Verhindern, dass der Krebs wieder kommt. Überleben - das war ihn das Allerwichtigste. Dafür nahm er in Kauf, dass die Chemotherapie schwere Nebenwirkungen hat.

Peter von der Weiden, Patient
„Das Gefühl innerhalb der Füße ist im Prinzip tot. Wenn ich mit den Händen über die Fußfläche streiche, das merke ich überhaupt nicht. Das ist natürlich das Problem. Man hat also nicht mehr das Gefühl des direkten Auftritts. Man kann also nicht steuern, wie man geht oder wo man hintritt.“

Nebenwirkungen, die sein Arzt Dr. Graeven gut kennt. Sie kommen oft vor und werden umso schlimmer, je länger die Chemotherapie dauert.

Dr. Ullrich Graeven, Privatdozent Franziskus-Krankenhaus
„Das sind Nervenschädigungen, die auftreten können und die auch in Zusammenhang mit der Gesamtdosis des Medikaments Oxaliplatin stehen.“
KONTRASTE
„Das heißt?“
Dr. Ullrich Graeven, Privatdozent Franziskus-Krankenhaus
„Das heißt je mehr Substanz der Patient bekommt, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Nebenwirkungen auftreten.“

Sechs Monate dauerte für Peter von der Weiden diese Chemotherapie. So wurde die Therapie in der Zulassungsstudie des Herstellers getestet. Daran muss sich Dr. Graeven halten.

Dr. Ullrich Graeven, Privatdozent Franziskus-Krankenhaus
„Der jetzige Kenntnisstand ist der, dass wir ein halbes Jahr behandeln müssen und damit eben leider diese Art der Nebenwirkungen in Kauf nehmen.“

Doch Dr. Graeven ist sich mit vielen Fachkollegen einig: Diese sechs Monate wären womöglich gar nicht nötig: eine Verkürzung auf drei Monate wahrscheinlich genauso wirksam. Das würde er im Interesse seiner Patienten gerne beweisen und in einer klinischen Studie testen. Neun Millionen Euro bräuchte er dafür. Aber Dr. Graeven findet keine Geldgeber.

Hersteller ist der Pharmakonzern Sanofi. Sanofi finanzierte bisher keine Studie, die die Verkürzung der Chemotherapie auf drei Monate prüft. Ein anderer Krebsspezialist, Oberarzt Kretzschmar vom Helios-Klinikum in Berlin, bat Sanofi schon vor etlichen Jahren um Geld für eine solche Vergleichsstudie.

Dr. Albrecht Kretzschmar, Oberarzt Helios-Klinikum Buch
„Es gab natürlich keine Unterstützung von Seiten der Firma, die haben gesagt, ja, wäre interessant, aber letztlich viel weiter verfolgt wurde das dann nicht.“
KONTRASTE
„Wann war das?“
Dr. Albrecht Kretzschmar, Oberarzt Helios-Klinikum Buch
„Das war, würde mal sagen so vor vier Jahren etwa.“

Wäre diese Studie damals begonnen worden, hätte Peter von der Weiden vielleicht davon profitiert. Womöglich wäre ihm viel Leid erspart worden. Warum das nicht geschehen ist - darüber hat er sich längst eine eigene Meinung gebildet.

Peter von der Weiden, Patient
„Wenn man bedenkt, dass jede Chemo sehr viel Geld kostet und davon nur noch die Hälfte gebraucht wird, kann es kaum im Interesse der Hersteller sein, eine solche Studie auf den Markt zu bringen, weil dann möglicherweise ihr Verdienst halbiert wird.“

Wir wollen von Sanofi wissen, warum die Firma eine solche Studie nicht durchgeführt hat? Eine Antwort auf genau diese Frage bekommen wir nicht. Sanofi antwortet ausweichend, verweist auf Italien: Dort werde die kürzere Therapie gerade getestet.

Tatsächlich: In Italien hat eine solche Studie gerade begonnen. Doch sie ist zu klein, um die Frage, ob die kürzere Therapie genauso wirksam ist, abschließend klären zu können.

Unsere Recherchen ergeben außerdem: In Italien holt sich der Staat Geld für unabhängige Forschung mit einer Zwangsabgabe. Alle Firmen, die in Italien Arzneimittel verkaufen, sind gesetzlich verpflichtet, einen Teil ihrer Marketingausgaben in einen Fonds einzuzahlen – insgesamt 40 Mio. Euro pro Jahr. Aus diesem Fonds werden unabhängige Studien finanziert, erklärt der Direktor der staatlichen Arzneimittelbehörde.

Prof. Guido Rasi, Präsident Institut für Arzneimittel Rom
„Fünf Prozent der Summe, die die Pharmaindustrie in Italien für ihr Marketing ausgibt, muss sie jedes Jahr an den Fonds überweisen, damit wir unabhängige Forschung finanzieren können.“

Italien macht also vor, wie man die Industrie wirklich in die Pflicht nehmen könnte. Anders in Deutschland: Im Bundesgesundheitsministerium setzt man auf das Prinzip Hoffnung. Kein Interview – die Ministerin antwortet nur schriftlich, Zitat:
„Wir setzen zunächst auf Freiwilligkeit. Ich hoffe auf die Einsicht der pharmazeutischen Industrie…“

Ein schöner, aber unverbindlicher Appell an die Anbieter, die Industrie, kritisiert Prof. Glaeske, Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung.

Prof. Gerd Glaeske, Sachverständigenrat im Gesundheitswesen
„Das ist ja richtig, dass man auch die Hersteller und Anbieter in die Pflicht nimmt. Nur ich kann ja nicht darüber hinwegschauen, dass ein Anbieter sich nicht selber den Markt abgraben wird. Sondern das ist etwas, das weltfremd wäre, von einem Anbieter zu erwarten.“

Denn es geht um Geld, um sehr viel Geld. Beispiel: Die Behandlung von Brustkrebs mit dem Medikament Herceptin. Das Medikament verringert das Risiko, einen Rückfall zu erleiden. Die Kosten für die einjährige Therapie sind immens: 42.000 Euro.

Und ein ganzes Jahr muss die Behandlung mit Herceptin dauern, diese Dosis hat der Hersteller, die Firma Roche vor der Zulassung festgelegt. Ein Jahr Herceptin – an diese Vorgabe von Roche müssen sich die Ärzte halten.

Und das obwohl eine kürzere Therapie vielleicht genauso wirksam wäre – erklärt Oberarzt Kretzschmar. Hinweise darauf findet er in einer Studie aus Finnland, die aber zu wenig Patientinnen einschloss. Das besondere: Das Anti-Krebsmittel Herceptin wurde dort nur drei Monate verabreicht.

Dr. Albrecht Kretzschmar, Oberarzt Helios-Klinikum Buch
„Es ist aber trotzdem eine sehr eindrucksvolle Risikoreduktion erreicht worden, das heißt, das Risiko, einen Rückfall zu erreichen, ist bei diesen Patientinnen halbiert worden. Das heißt, dass vermutlich die kurze Therapie genauso gut ist bei die Therapie über ein Jahr.“

Vielleicht genauso wirksam - aber geringere Kosten für die Krankenkassen: Zwölf Monate Herceptin kosten 42.000 € pro Patientin – bei 3 Monaten wären es nur 10.500 €.

Auch die Firma Roche finanziert keine Studie, die die kürzere Therapie. Auf Anfrage räumt Roche ein, falls die kürzere Therapie genauso wirksam wäre wie die einjährige, Zitat:
“… ja, dann würde Roche mit dem Herceptin weniger verdienen.“

Bezahlen müssen dafür die Krankenkassen. Deshalb müssten eigentlich die Krankenkassen daran interessiert sein, eigene Arzneimittelstudien zu finanzieren – doch das ist ihnen per Gesetz verboten.

Und Ulla Schmidt? Sie sieht keine Notwendigkeit, dieses Gesetz zu ändern, damit Kassen eigene Studien durchführen können. Und: Sie will auch keine Zwangsabgabe für die mächtige Pharmaindustrie wie in Italien einführen. Doch beides würde sich auszahlen.

Prof. Gerd Glaeske, Sachverständigenrat im Gesundheitswesen
„Es handelt sich nicht um gigantische Summen, man kann das ja feststellen, dass das eine Forschungsfinanzierung ist, die sich aus meiner Sicht langfristig immer lohnen wird, weil damit Wirtschaftlichkeitspotenziale in der Versorgung durch die Krankenversicherungen erschlossen werden.“

Ergebnis unserer kleinen Studie: Wer nur auf die Einsicht der Industrie setzt, schadet Krankenkassen und Patienten.


Beitrag von Ursel Sieber