- Keine Zeit für Demenzkranke - Pflegeversicherung zahlt nicht

Die Zahl der Demenzkranken steigt von Jahr zu Jahr, doch bis heute wird das Krankheitsbild in der Pflegeversicherung kaum berücksichtigt. Patienten und Pflegekräfte stehen gleichermaßen unter Druck. Die Folge: Aggressionen gehören zum Alltag.

Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und wissen einfach nicht mehr, wo sie sind. Ein Albtraum. Für viele Menschen, die an Demenz erkrankt sind, ist das allerdings bittere Realität. Demenz gilt als die Volkskrankheit der Zukunft. In 20 Jahren sollen bereits rund zwei Millionen Menschen in Deutschland demenzkrank sein. Das wirft gewaltige Probleme auf, vor allem bei der Pflege. Denn die Betreuung dieser Patienten ist extrem zeitaufwändig. Schon jetzt kommen Pfleger in der Demenzbetreuung kaum hinterher, es fehlt an Personal. Doch das berücksichtigt die Pflegeversicherung kaum. René Althammer zeigt, wie schwierig der Heimalltag für Demenzkranke und für die Pfleger ist.

Ein ganz normaler Morgen in einem Berliner Altenpflegeheim.

Marina Fabian
„Guten Morgen. Ja wir helfen ihnen jetzt ein bisschen frisch machen und anziehen. Ja?"

Schwester Marina und Schwester Mariama wecken, waschen und füttern - immer geduldig, obwohl schon die nächsten demenzkranken Patienten auf sie warten.

Marina Fabian
„Sie sind gleich fertig. Na kommen Sie. Nur ein bisschen frisch machen."

Viel Zeit bleibt nicht - in gut 15 Minuten müssen die beiden Schwestern fertig sein. Mehr gibt die Pflegeversicherung für die Morgentoilette nicht her.

Demenz ist eine unheilbare Erkrankung. Die Kranken verlieren nach und nach ihr Gedächtnis, ihr Orientierungsvermögen, ihre Sprache. Irgendwann verstehen sie nicht mehr, warum sie sich anziehen oder waschen sollen.

Marina Fabian
„Bärbel, den zweiten Fuß. Kannst du aufstehen gleich, ja."

Demenzkranke brauchen Zeit, viel Zeit. Jeder Schritt muss ihnen erklärt werden. Doch in der Pflegeversicherung spielt der besondere Zeitaufwand für Demenzkranke keine Rolle. Zuwendung, das Eingehen auf die Patienten, Abwarten - dafür ist keine Zeit vorgesehen.

Mariama Diallo
„Wollen wir aufstehen? Bitte. Kommen Sie, aufstehen. Nicht. Gut, dann müssen wir den Lift benutzen, ich kann Sie leider nicht tragen. Ja? Ich kann Sie nicht so hochheben, das schaffe ich nicht."

Marina Fabian
„Wenn man dann eher so noch unter dem Zeitdruck steht, hast noch soviel zu tun, da ist natürlich auch der Druck, der dann auch überspringt wahrscheinlich und gerade bei so einer Dame, die nimmt das doch noch alles ganz subtil wahr."

Auch wenn die Schwester bei der Pflege so behutsam wie möglich vorgeht, manche Patienten fühlen sich dadurch bedroht.

Mariama Diallo
„So meine Liebe, jetzt geht´s hoch, ja? Halten sie sich hier fest, bitte. Wollen Sie sich hier mal festhalten?"
Patientin
„Nein, nein."
Mariama Diallo
„Bitte. bitte. Wollen Sie sich mal hier festhalten? Bitte, bitte."
Patientin
„Nein, nein."
Mariama Diallo
„Gut."

Weil ihnen die Worte fehlen, reagieren die Patienten manchmal aggressiv: auch körperlich. Nicht immer geht es so friedlich aus.

Mariama Diallo
„Wenn wir sagen: ‚Kommen sie jetzt, wir stehen mal auf, wir gehen ins Bad.‘ Dann kämpfen die halt dagegen."

Marina Fabian
„Finden sie ekelhaft?"
Patient
„Ja. Aus"
Marina Fabian
„Einmal waschen."
Patient
„Aus, aus, ich will nicht mehr."
Marina Fabian
„Ja machen Sie selbst."
Patient
„Gar nicht. Ich will nichts mehr. Ich will hier raus."

Den Schwestern bleibt nur, den Wünschen und den Ängsten ihrer Patienten nachzuspüren.

Mariama Diallo
„Dann versuchen wir es eben allein. Lassen sie bitte meinen Arm, Aua. Nicht so doll. Nicht so doll, das tut doch weh, lassen sie los, loslassen, bitte, ja, loslassen, loslassen, loslassen, dankeschön."

Marina Fabian
„Letzte Woche war es sehr stark, dass eine Bewohnerin auf eine Pflegekraft richtig massiv, aggressiv so an die Person rangegangen ist, an die Pflegekraft. Und Schimpfwörter losgelassen hat und an den Haaren gezogen hat."
Mariama Diallo
„An dem Tag war sie nicht so gut auf mich anzusprechen, und dann hab ich eine andere Kollegin von mir hingeschickt und das ging dann ein bisschen. In der Toilette hat sie ein bisschen um sich geschlagen, aber dann, sie hat´s hinbekommen."

Marina Fabian
„Also, man kriegt schon mal einen Schreck, so in der Schrecksekunde: Was machste jetzt? Ja, und man ist auch manchmal ein bisschen erstmal gelähmt."

Für Pflegekräfte gehören verbale und körperliche Attacken immer öfter zum Alltag, das zeigen inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Studien. Man fand heraus: Der Zeitdruck in der Pflege setzt die Kranken unter Druck und führt zu Aggressionen.

Seit gut zwei Jahren gibt es umfangreiche Reformvorschläge für die Pflegeversicherung, die mehr Zeit für die individuelle Betreuung und Pflege von Demenzkranken vorsehen. Mehr Zeit: Das bedeutet mehr Pflegekräfte und das bedeutet mehr Geld. Kosten: bis zu drei Milliarden Euro. Doch seitdem ist nichts geschehen.

Gesundheitsminister Philipp Rösler will jetzt die Pflegeversicherung reformieren - so sagt er jedenfalls. Aber auf unsere Frage, warum die lange vorliegenden Vorschläge nicht schon umgesetzt wurden, weicht er aus. Es müssten „Fragen der Finanzierbarkeit, der Akzeptanz durch die Versicherten … berücksichtigt werden."
Engagement für die Demenzkranken hört sich anders an.

Die Folgen spüren die beiden Schwestern der Spätschicht Tag für Tag. Sie müssen dafür sorgen, dass die 20 Bewohner auf die Toilette gehen, Abendessen bekommen, gewaschen und umgezogen werden. Die Patienten werden immer unruhiger. Jeder will versorgt werden, der Zeitdruck lastet auf allen.

Medikamente sollen helfen, das Leiden der Patienten zu mindern. Doch sie sind oft nur ein hilfloser Ersatz, weil die Zeit der Schwestern für Zuneigung und Hinwendung begrenzt ist.

KONTRASTE
„Wenn Sie mehr Zeit hätten, müssten die Patienten auch weniger ruhig gestellt werden, beruhigt werden, oder wie kann man das sagen?"
Sylvia Bergmann
„So hab ich es mal von einem Arzt gehört. Was mir auch einleuchtet, das muss ich mal dazu sagen. Es leuchtet mir ein. Man hätte ja mehr Zeit, sich mit denen hinzusetzen, wenn die nervös sind und aufgeregt und unruhig. Und man setzt sich wirklich, tatsächlich mal eine viertel Stunde mit denen hin, ganz alleine, nur unter vier Augen, und man erzählt da, da kommen die wirklich aus sich raus, erzählen auch von früher und was alles, was sie sonst nicht erzählen. Da rennen sie an einem vorbei und man merkt, sie sind ganz anders dann. Eine gute Voraussetzung wäre es eben."

Wie viel Geld ist uns die menschenwürdige Versorgung der Demenzkranken wert? Die Politiker müssen darauf eine Antwort geben. Sie müssen offen sagen, dass mit den bisherigen Pflegebeiträgen den Menschen hier nicht zu helfen ist.

Und das bedeutet: Wohl oder übel muss sich jeder von uns darauf einstellen, künftig mehr zu zahlen, damit die Pflegeversicherung effektiv funktionieren kann.


Autor: René Althammer