- Lebensgefährliche Risiken - Kontrollbehörde für Arzneimittel versagt

Risiken und Nebenwirkungen eines Medikamentes sollten eigentlich im Beipackzettel stehen. Wenn Folgen verschwiegen werden, kann es für den Patienten lebensgefährlich werden. Für die Sicherheit der Medikamente ist die deutsche Arzneimittelbehörde verantwortlich. Sie muss beobachten, Risiken bewerten und rechtzeitig veröffentlichen. Doch genau das scheint oft nicht der Fall zu sein. Mit fatalen Folgen für die Patienten.

Können Sie sich vorstellen, dass ein Medikament, das ihre Beschwerden eigentlich lindern soll, stattdessen ihr Leben zerstört? Eigentlich vertrauen wir doch darauf, dass Arzneimittel von den zuständigen Behörden streng kontrolliert werden und dass die Pharmakonzerne alle Risiken offenlegen müssen. Doch unsere Autoren Caroline Walter und Lars Otto haben gefährliche Mängel in diesem angeblich sicheren System entdeckt.

Wolfgang Nandke sitzt viel zuhause, er kann nicht mehr arbeiten. Ein Medikament hat sein ganzes Leben verändert. Gegen seine chronischen Rückenschmerzen verschrieb ihm ein Arzt das Mittel Katadolon, es sollte die Muskeln entspannen.
Doch plötzlich geht es ihm sehr schlecht: er ist verwirrt, seine Haut verfärbt sich gelb. Er wankt ins Krankenhaus, dort bricht er zusammen, wird bewusstlos. Ein Rettungshubschrauber bringt ihn nach Berlin - seine Leber versagt, er braucht dringend ein neues Organ, eine Lebertransplantation. Von alldem bekam er nichts mit.

Wolfgang Nandke
„Ja, erstmal bin ich aufgewacht also hier, und hab mich geguckt, mir den Raum angeguckt, und gesehen dass ich hier irgendwie verkehrt bin, dann wollte ich mich drehen, dann hab ich an meinem Bauch gefasst, weil das irgendwo gezogen hat. Und da hab ich die Narbe gemerkt, die eben ganz schön groß war und was ist nun passiert hier."

Das Medikament Katadolon hatte offenbar das Leberversagen verursacht. Wolfgang Nandke ist heute kaum mehr belastbar, denn er muss täglich 12 Medikamente schlucken, wegen der neuen Leber. Seine Frau und er kämpfen noch, um eine kleine Frührente und dass jemand die Verantwortung für den Schaden übernimmt.

Frau Nandke
„Also, das macht mich ganz wütend, weil ich denke, wenn mein Mann das Medikament nicht genommen hätte, weil die Warnhinweise vielleicht bekannt gewesen wären, dann würden wir jetzt ganz anders leben. Dann hätten wir nicht solche großen Einschnitte in der Lebensqualität, mein Mann hätte seinen Job nicht verloren und würde jetzt so von Tag zu Tag überlegen, wie es weitergeht."

Im Beipackzettel stand nichts über das Risiko eines Leberschadens. Wie kann das sein? Wir gehen der Sache nach und finden heraus: Das Medikament mit dem Wirkstoff Flupirtin steht schon sehr lange im Verdacht, schwere Leberschäden zu verursachen.

Bereits 2007 hat die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft alarmierende Zahlen veröffentlicht. Ein Drittel der Nebenwirkungen betraf die Leber: es gab auch Patienten mit Leberversagen und mehrere Todesfälle.

Doch das Bundesinstitut für Arzneimittel, zuständig für die Zulassung und Kontrolle, sah keinen Anlass zu handeln. Und sammelte weiter Fälle von geschädigten Patienten.

Für Prof. Bernd Mühlbauer, einen renommierten Experten von der Arzneimittelkommission, ist dieses Zögern unverständlich.

Prof. Bernd Mühlbauer
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

„Ohne Zweifel kann man konstatieren, dass die damalige Entscheidung 2007 nicht zu handeln offensichtlich eine Unterschätzung des Risikos war, also eine Fehlentscheidung. Ich hätte erwartet, dass damals bereits ein neues Risikobewertungsverfahren seitens der Behörde angeleiert wird, um dann zu überlegen, ob dieses Medikament überhaupt noch im Markt verbleiben kann."

Aber das Medikament blieb auf dem Markt, besondere Warnhinweise im Beipackzettel erfolgten nicht. Erst 2013, sechs Jahre später, wurde ein sogenannter Rote Hand Brief verschickt, die höchste Warnung an alle Ärzte. Auf einmal darf das Medikament nur noch in Ausnahmen verschrieben werden und dann nur für zwei Wochen - mit enger Kontrolle der Leberwerte. Späte Maßnahmen nach Hunderten Leberschäden, fünf Lebertransplantationen und siebzehn Todesfällen.

Prof. Bernd Mühlbauer
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

„Man kann nur bedauern, dass es so spät war, weil mit Sicherheit einige Patienten diese Nebenwirkungen erlitten haben, vielleicht davor verschont geblieben wären, wenn man das früher so entschieden hätte."

Doch nicht nur das: die Zulassungsbehörde stellt jetzt sogar fest:
„die Wirksamkeit von Flupirtin bei chronischen Schmerzen sei unzureichend belegt."

Lebensbedrohliche Nebenwirkungen, aber kein Nutzen. Für Wolfgang Becker-Brüser vom unabhängigen Arznei-telegramm war das keine Überraschung.

Wolfgang Becker-Brüser
Informationsdienst arznei-telegramm

„Also, ich denke es ist ein Offenbarungseid für so eine Behörde, wenn sie im Jahre 2013 sagt, der Nutzen ist ja gar nicht belegt, bei einem Arzneimittel, dessen Langzeitanwendung sie ja selbst zugelassen hat, und zwar 15 Jahre oder 13 Jahre vorher; schlafmütziger kann man eigentlich gar nicht sein."

Wir haben das Bundesinstitut für Arzneimittel für ein Interview angefragt, man habe keine Zeit. Die Behörde teilt schriftlich mit, sie habe das Risiko in den letzten Jahren beobachtet und die Initiative ergriffen. Warum dann erst 2013 die höchste Warnung und Änderung der Zulassung? Darauf keine konkrete Antwort.

Der Hersteller konnte in all der Zeit munter Werbung für das Medikament mit Markennamen Katadolon machen - auf Ärztekongressen; er tut dies sogar bis heute.
Wir sind auf den Südwestdeutschen Schmerztagen, eine Fortbildungsveranstaltung gesponsert von Pharmafirmen. Ein Pharmavertreter lobt uns gegenüber Katadolon in den höchsten Tönen.

Pharmavertreter TEVA
„Also wenn ich jetzt Arzt wäre, und Sie mit Rückenschmerzen zu mir kämen, dann würde Ihnen Katalodon verschreiben. Das ist das beste Mittel zurzeit.“
KONTRASTE
„Jetzt gab’s doch einen Rote-Hand-Brief …?“
Pharmavertreter TEVA
„Da machen wir jetzt mal einen Cut.“

Wir versuchen erneut in Sachen Leberschäden nachzuhaken.

„Es gab Leberschäden, 2007 die Arzneimittelkommission …?“
Pharmavertreter TEVA
„Äh, da möchte ich jetzt mal einen Cut machen.“

Schweigen, wo es um Risiken geht. Auch Patienten können sich auf den Schmerztagen informieren. Einige haben Katadolon genommen.

Patientin
„Ich hab das über ein Jahr genommen und hab jetzt ganz erhöhte Leberwerte."
KONTRASTE
„Haben Sie gewusst, dass das schwere Leberschäden verursachen kann?“
Patientin
„Nein, auch mein Hausarzt hat das nicht gewusst."

Patientin
„Wenn Sie das jetzt sagen, dass das auch schwere Leberschäden, dann wundere ich mich nicht, dass ich die Begleiterscheinungen hatte."

Patientin
„Dass dann überhaupt so ein Medikament zugelassen wird, ich mein, da gibt's doch Zulassungsbestimmungen, und das versteh ich jetzt gar nicht."

Nicht der einzige Fall, bei dem die Arzneimittelbehörde durch Abwarten Patienten in Gefahr bringt. Verlangen Betroffene schließlich Aufklärung, um einen Pharmakonzern zu verklagen, müssen sie auch noch gegen die Behörde kämpfen.

Das zeigt der Fall des Malaria-Medikaments Lariam. Viele schlucken es als Malaria-Prophylaxe für den Urlaub. Auch Tausende von deutschen Soldaten mussten es für die Auslandseinsätze einnehmen. Immer wieder erhielt die Arzneimittelbehörde Berichte über schwere psychische Nebenwirkungen wie Psychosen, Halluzinationen, Depressionen bis hin zu Selbstmorden.

So erging es auch diesem Familienvater. Für eine Asienreise nahm er Lariam. Nach dem Urlaub schloss er noch wichtige Verträge für die Zukunft ab, in der Mittagspause nahm er sich dann das Leben.

Der Anwalt Wolfgang Kunze vertritt die Familie des Verstorbenen. Sie sehen beim Mittel Lariam die Ursache der Tragödie. Anwalt Kunze beantragte Akteneinsicht in die Unterlagen der Arzneimittelbehörde.

Wolfgang Kunze
Anwalt

„Wir wollten nachsehen: Gab es Hinweise darauf, dass dieses Medikament Selbstmord auslösen kann."

Doch die Arzneimittelbehörde weigerte sich. Es ging vor Gericht, erst nach 5 Jahren bekam der Anwalt endlich Akteneinsicht. Dabei erlebte er eine Überraschung.

Wolfgang Kunze
Anwalt

„Als wir die Akten vorgelegt bekommen haben, mussten wir feststellen, dass die Akten nicht mehr vollständig gewesen sind. Der Pharmaunternehmer hatte die Gelegenheit vor uns die Akten zu durchforsten."

Vertreter vom Pharmakonzern Roche sortierten vorher Unterlagen aus, die sie als Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis deklarierten. Ein pharmafreundliches Gesetz macht das möglich.

Wolfgang Kunze
Anwalt

„Für mich als Vertreter meiner Mandantin war natürlich ärgerlich, dass ich nicht sehen konnte, was denn entnommen worden ist. Was war der Inhalt der Seiten, die entnommen wurden? Waren es tatsächlich Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse oder war es etwas anderes?"

Am Ende entscheidet die Arzneimittelbehörde selbst, welche Unterlagen herausgegeben werden oder nicht.

Nach Auswertung der Akten kommt heraus: Die Behörde wusste seit vielen Jahren vom Selbstmordrisiko unter Lariam. Doch der Hersteller Roche konnte das Risiko im Beipackzettel trotzdem ein Jahrzehnt klein reden:
So hieß es, es sei …
„... kein Zusammenhang mit der Anwendung des Arzneimittels nachgewiesen …"

Im jüngsten Beipackzettel ist dieser Satz gestrichen. Dazu erklärt die Behörde: man habe „Unstimmigkeiten" beim Pharmakonzern festgestellt.
Viel zu spät wurde das Selbstmordrisiko überprüft und ausreichend transparent gemacht.

Prof. Bernd Mühlbauer
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

„Es ist selbstverständlich eine sehr klare, eindeutige Forderung, auch der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dass alle Daten über Arzneimittel offen und transparent und frei zugänglich sein müssen. Und da dürfen auch keinerlei Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse angeführt werden, denn das Patientenwohl steht hier ganz klar im Vordergrund."

Wolfgang Nandke fühlt sich allein gelassen - mit dem, was ein Medikament aus seinem Leben gemacht hat.

Wolfgang Nandke
„Das hätte nicht sein müssen, dass ein Mensch durch dieses Medikament so doll aus der Bahn geworfen wird. Dass in meinem Fall eben alles, fast alles, den Berg lang runtergeht.“

 

Beitrag von Caroline Walter und Lars Otto