- Methadon in Kinderhänden – Wer kümmert sich um die Kinder drogenabhängiger Eltern?

Sie haben sicher davon gelesen: Chantal, das 11jährige Mädchen, das in Hamburg in einer Drogenfamilie ums Leben kam. Erinnern Sie sich auch noch an den kleinen Kevin aus Bremen? Der Junge war von seinem drogensüchtigen Vater zu Tode geprügelt worden. Wir sind der Frage nachgegangen: Sind das immer nur Einzelfälle, in denen Jugendämter versagen? Wie stark sind Kinder gefährdet, wenn man sie bei Eltern lässt, die noch mit ihrer Sucht kämpfen? Caroline Walter und Gregor Witt.

 

Das ist Marion - sie war 15 Jahre schwerst drogenabhängig. Für ihre beiden Kinder war es die reinste Hölle.

Marion, Ex-Drogenabhängige
„Ich hab meine Kinder auch sehr oft gehauen, übelst, richtig geschlagen. Tut mir auch leid (weint)…Ich hab sie oft gehauen aus meinen Launen heraus. Vor allem, wenn so Situationen waren, dass das Jugendamt sich angemeldet hat und irgendwie solche. Dann musst ich die Wohnung natürlich irgendwie auf Vordermann bringen, hab die Kinder dafür verantwortlich gemacht. ‚Ihr macht den Dreck hier, Ihr müsst jetzt helfen aufzuräumen, sonst holt Euch das Jugendamt weg und die bringen Euch in ein Heim'. Hab die Kinder ganz viel verantwortlich gemacht."

Marion versuchte zwar von den Drogen wegzukommen, mit Hilfe von Ersatzstoffen wie Methadon. Doch die Sucht war stärker, ständig betäubte sie sich mit Alkohol und Heroin. Immer lag alles herum - irgendwann schluckte die kleine Tochter eine Drogenkapsel.

Marion, Ex-Drogenabhängige
„Sie war apathisch, schläfrig, wie wenn einer zugekifft ist, hat nur in der Ecke rum gehangen. Dann hat sie sich übergeben, dann wurde ich stutzig. Dann war ich auch beim Arzt mit ihr, ich wusste was war, ich wusste, sie hat eine Kapsel genommen, hab natürlich nichts gesagt, eben aus Angst: Die Ämter zu Hause und die nehmen mir die Kinder weg und so."

Ihre Tochter hat die Drogenhölle überlebt.

Chantal aus Hamburg hatte kein Glück. Sie starb mit 11 an einer Überdosis Methadon, das vermutlich fahrlässig in der Wohnung herumlag. Ihre Pflegeeltern, beide drogenabhängig, waren im sogenannten Methadon-Programm. Doch davon wusste das Jugendamt angeblich nichts.

Ganz anders in Bremen: Die Suchtmediziner Dr. Koc und Dr. Tietje wissen genau, wer von den Drogenabhängigen hier Kinder hat. Sie melden es automatisch ans Jugendamt. Denn in Bremen gelten besondere Regeln: Wer in das Methadon-Programm will, muss unterschreiben, dass die Daten über seine Kinder an die Behörden weitergegeben werden.

John Koc, Suchtmediziner Bremen
„Es ist wichtig, dass die Jugendämter Bescheid wissen, dass Kinder im Haushalt sind, damit die rechtzeitig vorbeugende Maßnahmen ergreifen können, damit es erst gar nicht so weit kommt, dass Kinder mit Drogen in Kontakt kommen."

Tatsache ist: viele Suchtkranke werden trotz Methadon-Therapie rückfällig, greifen immer wieder zu harten Drogen - für Kinder ein gefährliches Umfeld.

Wie gefährlich, das wollte die Stadt Bremen wissen. Systematisch wurden dort erstmals in Deutschland Haarproben von Kindern zwischen 0 und 12 Jahren untersucht, deren Eltern drogensüchtig sind.

Die Ergebnisse sind erschreckend: Von 122 Kindern fanden sich bei 97 Drogenspuren im Haar. Nicht nur Methadon und Haschisch, in vielen Fällen harte Drogen wie Heroin, Kokain und Ecstasy, teils sogar in hoher Konzentration.

Prof. Bernd Mühlbauer hat in seinem Bremer Labor die ersten Haaranalysen durchgeführt und bei mehreren Kindern nachgewiesen, dass sie Drogen in ihren Körper aufgenommen haben - was schwerste gesundheitliche Schäden nach sich ziehen kann.

Prof. Bernd Mühlbauer, Institut für Pharmakologie Bremen
„Vor diesen Messungen hätten wir uns alle nicht träumen lassen, dass so viele Kinder in diesen drogenbelasteten Familien tatsächlich selbst persönlich mit diesen gefährlichen Drogen belastet sind. Also das entscheidende ist, die entscheidende Entdeckung ist, wie flächendeckend das Problem ist."

Aufgefallen sind dabei auch Kinder, bei denen vorher niemand Verdacht geschöpft hatte.

John Koc, Suchtmediziner Bremen
„Die Haaranalysen erlauben uns, einen deutlich genaueren Einblick in das, was in den Familien passiert, und mit den Kindern passiert, sodass wir nicht mehr auf Treu und Glauben und Vermutungen angewiesen sind, sondern wir haben mittlerweile jetzt hieb- und stichfeste Ergebnisse, die zumindest zeigen, dass die Kinder mit Drogen in Kontakt kommen."

Er hält regelmäßige Haaranalysen bei Kindern für unverzichtbar.

Wir treffen Claudia. Auch bei einem ihrer Kinder fand man bedenkliche Drogenreste in den Haaren. Das Jugendamt nahm ihre Kinder in Obhut, um sie zu schützen. Claudia ist verzweifelt und strengt sich jetzt an, ihre Sucht in den Griff zu kriegen. Sie unterwirft sich strengen Kontrollen bei ihrem Arzt.

Claudia, Drogenabhängige
„Für mich ist es ganz gut, da ich mit dem Jugendamt zu tun habe und die einfach dadurch sehen, dass ich wirklich auch sauber bin und denen keine Geschichte erzähle. Es ist ja auch einfach so, dass Süchtige manchmal auch einfach Geschichten erzählen. Das Jugendamt sieht dann einfach, das ist so eine strenge Kontrolle, da kann nichts schief gehen."

In Bremen wurden mehrere Kinder aus dem Drogenmilieu gerettet - Haaranalysen als Alarmsystem, bevor jede Hilfe zu spät kommt.

Und in Hamburg? Wir sind in der Praxis von Dr. Brack, einem der maßgeblichen Suchtmediziner der Stadt. Er lehnt regelmäßige Haaranalysen bei Kindern von Drogenabhängigen ab.

Jochen Brack, Suchtmediziner Hamburg
„Ich weiß nur nicht, mit welchem Effekt diese Haaranalysen gemacht werden sollen."
KONTRASTE
„Dass Sie dann wissen, welche Kinder gefährdet sind und diesen Drogen ausgesetzt sind, wo die Eltern fahrlässig sind oder auch sozusagen bewusst so etwas verabreichen?”
Jochen Brack, Suchtmediziner Hamburg
„Ja, nur mir hilft es dann nicht weiter, wenn man flächendeckende Haaranalysen … Ich weiß nicht, was das bewirken soll, um das Kindeswohl zu sichern."
KONTRASTE
„Sie wissen erstmal, welches Kind gefährdet ist!”
Jochen Brack, Suchtmediziner Hamburg
„Das wäre natürlich ein Ausgangspunkt, aber ich glaube, dass das in der Sache nicht weiterhelfen würde."

Denn Dr. Brack glaubt, er könne sehen, wann es den Kindern seiner Suchtkranken schlecht geht, obwohl er bei denen meisten nie ins Haus kommt.

Bei Marions Kindern hätten Haaranalysen alles aufdecken können. Doch es gab sie nicht. So konnte sie Ärzte und Behörden täuschen.

Marion, Ex-Drogenabhängige
„Über Jahre hab ich die belogen und betrogen. Ich hab's immer wieder so hingedreht auch mit Hilfe der Kinder. ‚Das dürft Ihr sagen und das dürft Ihr nicht sagen, da dürft Ihr ja und da nicht und wenn die komische Fragen stellen, geht lieber raus.’ Über Jahre hab ich die betrogen."

Uns wird mehr und mehr klar: regelmäßige Haaranalysen könnten Kinder besser schützen. Doch sehen auch die Bundesländer diesen Handlungsbedarf? Wir haben alle gefragt, und alle außer Bremen lehnen eine regelmäßige Haaranalyse ab. So heißt es, Zitat:
„Die Länder planen … keine gesetzliche Einführung derartiger Reihenuntersuchungen."

Immer wieder das Argument: Man würde damit die Suchtabhängigen, „unter Generalverdacht" stellen.

John Koc, Suchtmediziner Bremen
„Was mich daran ärgert ist, dass nicht gesehen wird, dass diese Kinder in Lebensgefahr schweben und dass es Todesfälle gibt. Und ich frage mich, ob erst noch mehr Kinder sterben müssen, bevor auch andere darauf kommen, dass man sowohl die Hilfsangebote und die Unterstützung als auch die Kontrollen und die Sanktionsmaßnahmen verschärfen muss."

Wir finden heraus, in den anderen Bundesländern gibt es nicht einmal ein Mindestmaß an Kontrolle. Auf unsere Frage, ob die Jugendämter überhaupt erfahren, dass Kinder bei den Drogenabhängigen leben - lautet die Antwort aus fast allen Bundesländern, Zitat:
„Eine automatische Meldung an das Jugendamt erfolgt nicht."

Ein System, das Kinder durchs Raster fallen lässt. Marion ist mittlerweile clean und hat einen festen Job. Heute weiß sie, was sie ihren Kindern angetan hat.

Marion, Ex-Drogenabhängige
„Sie sind geschädigt. Den Schaden haben sie bis heute, den werden sie ihr Leben lang tragen, dass sie keine Kindheit und ein Teil der Jugend nicht hatten. Das habe ich ihnen ja genommen durch diese Sucht, kann ich denen nie wieder zurückgeben."

Woran es liegt, dass die meisten Bundesländer stärkere Kontrollen ablehnen? Vielleicht daran, dass der Staat sich ja dann auch um diese Kinder kümmern müsste.