Hunderte Millionen für sinnloses Hautkrebsscreening vergeudet, Quelle: rbb Kontraste

Hunderte Millionen für sinnloses Hautkrebsscreening vergeudet - Spiel mit der Angst

Hautkrebs gilt derzeit als die häufigste Krebserkrankung in Deutschland. Die Einführung des Hautkrebsscreenings als Kassenleistung vor sieben Jahren schien deshalb auf den ersten Blick gut angelegtes Geld zu sein. Doch KONTRASTE liegt jetzt exklusiv die erste Evaluationsstudie der Reihenuntersuchung vor. Das Ergebnis ist katastrophal: Von den mindestens 130 Millionen Euro, die die Kassen jährlich für das Sceening-Programm ausgeben, profitieren vor allem die Ärzte.

Früherkennung - das hält wohl jeder für eine gute Sache! Leider stimmt das  nicht in jedem Fall: rund 8 Millionen Menschen gehen  jedes Jahr zur Früherkennung von Hautkrebs. Krankenkassen und Hautärzte werben massiv für das sogenannte Hautkrebs-Screening. Die Angst vor dem Krebs ist weit verbreitet. Doch meine Kollegin Ursel Sieber konnte jetzt exklusiv das erste offizielle Gutachten zu dem Programm einsehen. Die Ergebnisse stellen das Screening komplett infrage. Es ist offenbar nutzlos - und womöglich sogar schädlich!

 

Die ersten Sonnenstrahlen. Man zeigt Haut. Das macht Spaß, und es ist gesund. Über die Haut aktiviert das Sonnenlicht lebenswichtige Abwehrkräfte im Körper. Doch zu viel Sonne ist auch nicht gut. Immer mehr Menschen haben Angst vor Hautkrebs. Deshalb begutachten Ärzte Leberflecken und Muttermale, inspizieren jede Körperfalte. Rund 130 Millionen Euro lassen sich die Krankenkassen diese Früherkennung jährlich kosten. Alle zwei Jahre soll sich jeder Versicherte ab 35 untersuchen lassen, dafür werben die Ärzte auch in diesem Video:

 

O-Ton/Video

"Bei keiner anderen Krebsart kann man so gut heilen, wenn man den Patienten frühzeitig sieht."

Hautkrebsscreening rettet Leben. Ein großes Versprechen. Oder nur ein Geschäft mit der Angst? Am Universitätsspital in Zürich treffen wir den international angesehenen Dermatologen Prof. Reinhard Dummer. Er meint: Die Hautkrebsfrüherkennung habe bisher nicht viel gebracht.

 

Prof. Reinhard Dummer, Universitätsspital Zürich

"Der eindeutige Nachweis für die Wirksamkeit wäre die Abnahme der Mortalität, also der Sterblichkeit. Das konnten wir bisher nicht zeigen."

Tödlich kann nur dieser Hautkrebs verlaufen, der schwarze Hautkrebs, das sogenannte Melanom. Er kommt selten vor. Gefährlich sind die "dicken Melanome" - Professor Dummer nennt sie "Killer",  Sie wachsen schnell, in die Tiefe der Haut und haben oft schon Metastasen gestreut, bevor man sie findet.

 

Prof. Reinhard Dummer, Universitätsspital Zürich

"Die Melanome, die zum Tod führen, das sind meist dicke Melanome, die verpassen wir immer noch trotz Früherkennungsunterkampagnen."

Es ist also blanker Zufall, ob man die schnellwachsenden Melanome bei einem Früherkennungstermin erkennt, der im Abstand von zwei Jahren stattfindet. Was man beim Screening dagegen meistens entdeckt, sind die harmloseren, langsam wachsenden Typen.

 

Prof. Reinhard Dummer, Universitätsspital Zürich

"Da ist schon ein Problem dahinter. Wir finden mit den Präventionskampagnen vor allem mehr dünne Melanome, oberflächlich wachsende Melanome, die weniger gefährlich sind."

So wie bei Ute Attemeier. In der Früherkennungsuntersuchung wurde ein dünnes, oberflächlich wachsendes Melanom entdeckt. Die 48-Jährige hatte keine Beschwerden, selbst nichts bemerkt. Bei der Vorsorge fiel ihrem Arzt ein verdächtiges Muttermal auf. Es wurde großflächig herausgeschnitten und ins Labor geschickt. Es war ein Melanom.

 

Ute Attemeier

"Ich habe erstmal geheult, weil man ahnt, es ist bösartig, aber das dann zu hören, es ist bösartig, ist ein Gefühlschaos in einem. Er war Gott sei Dank nur 0,3 mm tief."

Ein dünnes Melanom also. Auch wenn Ute Attemeier das Gefühl hat, die Früherkennung habe ihr möglicherweise das Leben gerettet – und auch wenn das in ihrem Fall tatsächlich so sein kann – bezogen auf die große Zahl der 15 Millionen Menschen, die alle zwei Jahre zum Screening gehen, bringt das Programm nichts. Seit Beginn des Massen-Screenings ist zwar die Zahl der Melanom-Diagnosen sprunghaft angestiegen, um 25%. Doch bislang ohne Erfolg: Fünf Jahre nach Beginn des Programms sterben immer noch genauso viele Menschen am Melanom wie vor dem Screening.

Vor allem die dünnen, weniger gefährlichen Melanome entdeckt das Screening also. Die  Hälfte davon sind sogar nur sogenannte "Krebsvorstufen", von denen sich nur manche später überhaupt zu einem Krebs entwickeln. Das zeigt dieses erste, vertrauliche Gutachten zum flächendeckenden Hautkrebsscreening, das Kontraste jetzt exklusiv vorliegt. Erstellt im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Für den Früherkennungsexperten Professor Hense vom Krebsregister Münster ist das Gutachten alarmierend, weil demnach das Screening viele Menschen unnötig zu Krebspatienten macht.

 

Prof. Hans-Werner Hense, Universitätsklinikum Münster

"Hier haben wir also das große Problem, das wir bei vielen Früherkennungsuntersuchungen haben, dass wir eine Überentdeckung und Überdiagnose betreiben, Überdiagnose bedeutet, dass wir etwas entdecken, was im Leben des Menschen niemals zu einem Gesundheitsproblem oder zu einer Lebensbedrohung geführt hätte."

Das Gutachten deckt noch etwas auf: Durch das Screening wiegen sich viele Menschen in falscher Sicherheit. Sie achten nicht mehr selbst auf ungewöhnliche Veränderungen der Haut. Sie vertrauen stattdessen auf die alle zwei Jahre stattfindende Untersuchung durch den Arzt. 

 

Prof. Hans-Werner Hense, Universitätsklinikum Münster

"Dann besteht die große Gefahr, dass Patienten, die an einer solchen Früherkennung teilgenommen haben, das Gefühl haben, ach es war ja nichts. Es ist alles in Ordnung bei mir. Da ist zwar eine Veränderung, aber da muss ich mich erst mal nicht so schnell darum kümmern, das hat sich ja erst ein Arzt vor sechs oder neun Monaten angeschaut. Das heißt, wir bekommen eine Verzögerung und dann haben wir sogar eine negative Wirkung, eine Schädigung bei den Patienten ausgelöst."

Wenn es also nichts nützt, sogar schaden kann - warum wurde das Hautkrebscreening dann überhaupt einführt?

Die Antwort finden wir in Schleswig-Holstein. Auf Betreiben des Hautarztes Professor Breitbart wurde hier im Jahr 2003 das Massenscreening ausprobiert. Angeblich mit Erfolg – doch wirklich überprüft hat das damals niemand.

Auf dieser unsicheren Grundlage wurde die Früherkennung für ganz Deutschland beschlossen, kritisiert Prof. Windeler, der oberste Medizinprüfer der Republik.

 

Prof. Jürgen Windeler, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

 "Ich finde es einen voreiligen Beschluss, weil man eigentlich andere Daten und Fakten bräuchte, die es international nicht gibt. Andere Länder haben das Screening nicht eingeführt."

Vor der Einführung hätte man qualifiziertere Studien machen müssen, um zu beweisen, dass es durch Früherkennung weniger Todesfälle gibt.

 

Prof. Jürgen Windeler, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

"Generell muss man eine vergleichende Untersuchung machen, und zwar eine vergleichende Untersuchung, indem man einer Gruppe von Menschen das Screening anbietet und einer anderen nicht, wie es bei Brustkrebs, bei Darmkrebs, bei Prostatakrebs auch gemacht worden ist. Dann kann man im Vergleich sagen, lässt sich die Sterblichkeit senken. Solche Studien gibt es nicht für den Hautkrebs."

Doch das hat im Gemeinsamen Bundesausschuss, der ärztlichen Selbstverwaltung und der Krankenkassen, die Ärztelobby nicht interessiert. Hausärzte und Hautärzte machten Druck und setzten sich durch. Denn durch das Hautscreening bekommen sie zusätzlich Geld. Und das außerhalb des eng bemessenen Budgets. Deshalb kämpfen sie bis heute für die Früherkennung, meint der Hautarzt Jürgen Tacke.

 

Jürgen Tacke, Hautarzt

"Es ist so, dass für die Behandlung von kranken Menschen ein Hautarzt ungefähr 12 € für drei Monate bekommt. Auch wenn er mehrmals zu uns kommen muss. Für die Früherkennungsuntersuchung bekommen wir hingegen 22 € und damit deutlich mehr Geld als für die Behandlung kranker Menschen. Das ist eine Absurdität, die es so nur in Deutschland gibt."

Inzwischen wird das Hautkrebsscreening aber auch von den Krankenkassen unterstützt. Die nutzen die vollkommen überzogene Angst vor Hautkrebs, um sich im gegenseitigen Wettbewerb Vorteile zu verschaffen. Die Kassen wollen die Hautkrebsvorsorge sogar noch auf andere Altersgruppen ausweiten und bieten ihren Versicherten jetzt das Hautscreening schon ab 16, 18 oder 20 an – manche gar ab der Geburt. Ihr Ziel: Versicherte gewinnen um jeden Preis.

 

Jürgen Tacke, Hautarzt

"Das Marketing der Krankenkassen ist ganz schlimm. Die agieren wie große Konzerne am Gesundheitsmarkt. Sie versuchen, mittels gesetzlicher Hautkrebsvorsorge und mittels zusätzlicher Screening-Vorsorgemaßnahmen junge gesunde Mitglieder zu werben."

Tatsächlich ist das Melanom bei jungen Menschen aber extrem selten. In ganz Deutschland sterben bei den 18 bis 34-Jährigen 45 Menschen an einem Melanom.

Deshalb ist in dieser Altersgruppe für Professor Hense ein Hautkrebsscreening besonders absurd. Aber auch ganz generell ist sein Fazit eindeutig.

 

Prof. Hans-Werner Hense, Universitätsklinikum Münster

"Ich glaube, dass das Hautkrebsscreening eine Maßnahme ist, die überflüssig ist. Ich glaube, dass es potenziell schädlich ist und ich sehe keinen Grund, dieses Programm deshalb fortzuführen. Man sollte es deshalb einstellen."

Wir haben die großen Krankenkassen angefragt und sie mit der Kritik konfrontiert. Doch alle wollen am Hautkrebsscreening festhalten.

 

Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht uns keinesfalls darum, das Hautkrebsrisiko zu verharmlosen. Wer wegen seiner Haut besorgt ist, der sollte natürlich zum Arzt gehen. Aber davon auszugehen, dass das Massenscreening wirklich Sicherheit bringt, ist ein Irrtum.

Beitrag von Ursel Sieber