- Patienten klagen an: Ist der Blutverdünner Pradaxa riskanter als versprochen?

Die Werbung klingt gut - kein lästiges Testen mehr wie beim altbewährten Blutverdünner Marcumar. Das verspricht jedenfalls Boehringer Ingelheim bei Pradaxa. Doch das Mittel steht wegen vieler schwerer und tödlicher Blutungen unter Verdacht. Mehr als 2000 Klagen in den USA laufen gegen den Pharmakonzern. Die Kläger vermuten aufgrund interner Dokumente, der Konzern könnte Profitinteressen über die Sicherheit der Patienten gestellt haben.
 
Wichtiger Hinweis für alle Patienten, die das Medikament Pradaxa einnehmen: bitte setzen Sie Pradaxa auf keinen Fall eigenmächtig ab. Sollten Sie Bedenken haben, sprechen Sie auf jeden Fall mit Ihrem Arzt.

 
 

Neue Medikamente wecken oft viele Hoffnungen, bergen aber auch neue Risiken. Pharmakonzerne sollten deshalb nichts unversucht lassen, die Risiken zu minimieren. In unserer ersten Geschichte geht es gleich um das Medikament Pradaxa - einen der neuen Gerinnungshemmer, der Patienten vor Schlaganfällen schützen soll. Doch es gibt beunruhigende Hinweise. Über 100 Menschen, die Pradaxa genommen haben, sind in Deutschland seit 2012 an schweren Blutungen verstorben. Es besteht der Verdacht, dass ihr Tod mit Pradaxa zusammenhängt. In den USA und Frankreich schlägt das Thema bereits hohe Wellen. Caroline Walter und Christoph Rosenthal.

Wir treffen Nathalie Dallard in Südfrankreich. Sie denkt oft an ihre Mutter, die noch so fit war und mitten im Leben stand: Bis zu dem Tag – als sie wegen blutender Hämorrhiden ins Krankenhaus gebracht wurde. Keine große Sache, dachte Nathalie, aber dann sah sie ihre Mutter in der Notaufnahme.

Nathalie Dallard
betroffene Angehörige

„Sie lag inmitten einer riesigen Blutlache. Es ging alles sehr schnell. Egal, was der Notarzt versuchte, es half nichts, ihr Blut war viel zu stark verdünnt. Er sagte, er könne nichts machen, es gebe kein Gegenmittel für dieses Medikament.“

Ihre Mutter verblutete innerhalb von zwei Stunden – an eigentlich harmlosen Hämorriden.
Ursache war anscheinend das Medikament Pradaxa, ein Blutverdünner. Ihre Mutter nahm es, um einem Schlaganfall vorzubeugen. Aber das neue Mittel wirkte bei ihr viel zu stark.

Pradaxa – gehört zu den neuen Gerinnungshemmern, die groß auf dem Markt beworben werden. Auch in Deutschland wird das Mittel gern und viel verschrieben.

Das erlebt auch der Bremer Hausarzt Dr. Wiesner. Wenn Patienten aus den Kliniken kommen, nehmen sie meist schon einen der neuen Blutverdünner. Dr. Wiesner setzt dagegen auf das alt bewährte Marcumar.

Aber das heißt: die Patienten müssen regelmäßig, alle paar Wochen zum Gerinnungstest – um zu kontrollieren, ob sie gut eingestellt sind. Wenn das Blut zu stark gerinnt, droht ein Schlaganfall. Gerinnt es zu schwach, kann es zu Blutungen kommen. Die Dosis von Marcumar wird individuell immer angepasst.

„Pradaxa“ dagegen erspare das ständige Messen. Die Patienten hätten den Kopf frei für das Leben – so der Werbeslogan. Es gibt auch nur zwei Dosierungen – für alle Patienten. Gegenüber Ärzten wirbt der Pharmakonzern mit folgendem Versprechen:

Boehringer-Video
„Bei Pradaxa ist es nicht erforderlich, die Blutgerinnung regelmäßig zu prüfen. Es ist auch nicht erforderlich, die Dosis immer wieder anzupassen.“

Hausarzt Dr. Wiesner ist trotzdem skeptisch – ob Pradaxa wirklich so sicher zu handhaben ist.

Dr. Matthias Wiesner
Facharzt für Allgemeinmedizin

„Ich weiß nicht, was die neuen Blutverdünner wirklich machen. Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wie gut die Einstellung ist. Ich habe keine Möglichkeit zu kontrollieren, ob ich es richtig eingestellt habe, ob es bei diesem Patienten individuell gut klappt. Das kann ich nicht sehen.“

Die Zweifel sind berechtigt: Denn in den USA laufen Tausende Klagen gegen Boehringer Ingelheim wegen schwerer und teils tödlicher Blutungen unter Pradaxa.

Bereits vor dem Prozess veröffentlichte jetzt dieses amerikanische Gericht interne Dokumente und E-Mails aus dem Hause Boehringer.
Sie geben einen erschreckenden Einblick.

Es beginnt mit der Arbeit eines Forschers aus dem eigenen Konzern. Er wertet die Zulassungsstudie für Pradaxa neu aus und findet heraus: Es gibt Patienten, bei denen das Medikament doch nicht optimal wirkt. Für sie bedeutet das ein erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall oder eine schwere Blutung. Der Forscher kommt hier zu dem Schluss: Es wäre erforderlich, Patienten zu testen, um festzustellen, bei wem Pradaxa nicht richtig funktioniert.

In der Boehringer Zentrale löst diese Analyse und ihr Ergebnis viel Unruhe aus. Mein weiß um die Brisanz. Der medizinische Teamleiter und Berater für’s Marketing schreibt 2011 in einer Mail:
„... Ich bin nicht glücklich mit der Schlussfolgerung … Könntest Du von den Anwälten prüfen lassen, ob es für Boehringer Probleme gibt, wenn das veröffentlicht wird?“

Auch an den Direktor von Boehringer in den USA geht eine warnende Mail:
„Das wäre kein Einmaltest und könnte in einer komplizierten Botschaft enden (regelmäßige Kontrolle notwendig) und das bedeutet ein geringeres Nutzenversprechen …“

Aus der Abteilung für Medical Affairs hinterfragt ein Mitarbeiter, den Zweck der ganzen Studie:
„Die Veröffentlichung wird uns mehr schaden als nützen - auf dem Markt, aber vor allem schadet sie uns in den Diskussionen mit den Zulassungsbehörden. Kann das nicht verhindert werden?“

Der Forscher von Boehringer soll offenbar sein Manuskript ändern. Vor allem die Forderung nach Tests bei allen Patienten, missfällt im Konzern.

Der medizinische Teamleiter hat aber schon eine Idee, wie man vorgeht. Er schreibt:
„... das Heikle ist, dass wir die Aussagen geschickt verpacken müssen. T... will sich darum kümmern … Es wäre der letzte Versuch, Paul (den Forscher) zu überzeugen und in eine Boehringer genehme Richtung zu lenken.“

Das Manuskript der Studie wird zwei Jahre hin- und her gewendet. Mittlerweile ist es 2013. Die Projektmanagerin von Pradaxa mischt sich ein, und sieht verärgert die bisherige Pradaxa-Strategie in Gefahr:
„Das wird es extrem schwer machen, gegenüber den Gesundheitsbehörden zu verteidigen, dass keine Kontrollen notwendig wären und es unterläuft unsere Bemühungen mit den anderen neuen Gerinnungshemmern zu konkurrieren.“

Erst vor wenigen Wochen wurde die Studie veröffentlicht. Aber anscheinend wurden Textpassagen herausgelassen. Wir bitten den renommierten Pharmakologen Prof. Bernd Mühlbauer die uns vorliegende Ursprungsfassung der Studie und die Veröffentlichte zu vergleichen.

Prof. Bernd Mühlbauer
Institut f. Pharmakologie, Klinikum Bremen-Mitte

„Es fällt schon auf das in der veröffentlichten Version einige Forderungen des unveröffentlichten Manuskripts nicht mehr vorkommen. Der Autor der unveröffentlichten Version sagt ganz klar, dass alle Patienten einer Blutspiegelkontrolle unterzogen werden sollten, um diejenigen zu identifizieren, die einer erhöhten Gefährdung unterliegen. Davon ist dann in der publizierten Version keine Rede mehr.“

Es gibt aber ein gravierendes Problem: So einfach wie bei Marcumar die Gerinnungswerte zu testen - das geht bei den neuen Mitteln wie Pradaxa nicht. Es steht kein Routinetest zur Verfügung.
Warum nicht, auch das enthüllt eine interne E-Mail aus der Entwicklungsabteilung vom Boehringer Konzern. So schreibt ein Mitarbeiter schon 2010:
„Dieser Test könnte bei uns entwickelt werden – aber vor zwei Jahren gab es die bewusste Entscheidung, dies nicht zu tun. Weil es unserem Werbeversprechen ‚keine Kontrolle notwendig‘ widerspricht.“

Prof. Bernd Mühlbauer
Institut f. Pharmakologie, Klinikum Bremen-Mitte

„Meine persönliche Einschätzung ist, dass das ein unverantwortliches Handeln ist; ich denke dass zugunsten der Rettung der Marketingstrategie ganz klar ein erhöhtes Risiko für Patienten eingegangen wurde, und wir können nicht wissen, wie es besser gelaufen wäre wenn man diese Messungen gemacht hätte frühzeitig, aber man hätte mindestens diese Gefahr an die Ärzte dieser Welt kommunizieren müssen.“

Nicht nur, dass es keinen Test gibt. Es existiert auch kein spezifisches Gegenmittel bei den neuen Gerinnungshemmern wie Pradaxa - um lebensgefährliche Blutungen zu stoppen. Im Gegensatz zu den alten Blutverdünnern.

Trotz all dem Wissen des Konzerns läuft die zweifelhafte Werbung weiter. Boehringer Ingelheim stand für ein Interview vor der Kamera nicht zur Verfügung. Zu den enthüllten Dokumenten heißt es: es sei nur ein kleiner Ausschnitt eines Meinungsaustausches gewesen. Und: Der Konzern habe nie kommerzielle Erwägungen über Patientensicherheit gestellt.

Er hat die brisanten Dokumente in Amerika veröffentlicht. Richter David Herndon bearbeitet über 2000 Klagen gegen Boehringer, darunter sind auch Todesfälle. Bereits vor dem Prozess hat er ein hohes Bußgeld gegen den Konzern verhängt – denn dieser hätte noch viel mehr offenlegen müssen.

David Herndon
Vorsitzender Richter, Gericht Illinois

“Für mich ist klar, dass die Kläger behindert wurden, ihre Fälle zu beweisen - weil die Firma Dokumente und Aufzeichnungen vernichtet und nicht so aufbewahrt hat, wie es sein sollte. Sie existieren einfach nicht mehr. Aber nicht die Firma kann darüber bestimmen, ob sie Dokumente zurückhält oder aufbewahrt.“

Auch Nathalie Dallard hat den Pharmariesen angezeigt. Das sei sie ihrer Mutter schuldig, sagt sie. Was jetzt noch über Pradaxa ans Tageslicht gekommen ist, kann sie nicht fassen.

Nathalie Dallard
betroffene Angehörige

„Ich kann nichts anderes als Wut empfinden. Ich bin traurig, ja, aber vor allem wütend, weil meine Mutter diesen Tod nicht verdient hat, und sie ist auch nicht die Einzige. Wir sind der Firma doch völlig egal. Denen geht es nur ums Geld, das sie mit uns verdienen. Das zählt, sonst nichts.“

Wir haben auch bei der Europäischen Arzneimittelzulassungsbehörde nachgefragt. Man sagte uns, es laufe derzeit eine Untersuchung. Und noch ein ganz wichtiger Hinweis für alle Patienten, die das Medikament Pradaxa einnehmen : Bitte setzen Sie Pradaxa auf keinen Fall eigenmächtig ab, sollten Sie Bedenken haben! Halten Sie in diesem Fall unbedingt Rücksprache mit Ihrem Arzt , das ist ganz wichtig.

 

Beitrag von Caroline Walter, Christoph Rosenthal