- Wenig geprüft, kaum kindgerecht - Politik bleibt bei Arzneimitteln für Kinder tatenlos

Immer noch sind viele Arzneimittel, die bei Kindern eingesetzt werden, für diese gar nicht zugelassen. Das größte Problem: Oft gibt es auch keine kindgerechte Darreichungsform. Fehldosierungen können die gefährliche Folge sein. Die Pharmaindustrie bekommt zuwenig Geld von den Krankenkassen, um lohnende Forschung an Kinderarzneien zu betreiben. Die Politik weigert sich, zu handeln.

Arzneimittel für Kinder: Nur mal angenommen, Ihr Kind würde schwer erkranken. Dann gingen Sie als Eltern doch wohl selbstverständlich davon aus, dass die Medikamente, die der Ihnen Arzt verschrieben hat, auf Risiken und Nebenwirkungen überprüft wurden! So, wie das bei Arzneimitteln für Erwachsene auch geschieht. Doch haarsträubenderweise ist genau das häufig nicht der Fall! Schwer kranke kleine Patienten müssen schlucken, was für sie oft gar nicht zugelassen ist. Caroline Walter und Alexander Kobylinski.

Lina ist fünf Jahre alt. Sie hat schon viel durchgemacht. Bei ihrer Geburt kam es zu einem Sauerstoffmangel, seitdem leidet Lina an Krampfanfällen, an Epilepsie. Heute muss sie wieder zur Untersuchung.

Acht Medikamente hat die Kleine bereits bekommen, manche davon wirkten einfach nicht. Die meisten Arzneimittel, die Lina nehmen muss, sind für Kinder gar nicht zugelassen und nicht getestet.

Linas Mutter
„Es ist ein schrecklicher Zustand irgendwie, dass man immer so denkt, oh, mein Kind ist jetzt Versuchskaninchen. Aber wie will man es machen, uns bleibt eben keine andere Möglichkeit, als das so zu tun."

Das Kind braucht unbedingt Medikamente. Deshalb hat Dr. Karenfort von der Kinderklinik Düsseldorf keine Wahl. In seinem Bereich Neurologie gibt es einfach zu wenig Arzneimittel, die auch für Kinder geprüft sind. Für die Pharmaindustrie lohnt sich der kleine Markt nicht. Für die Ärzte ein Dilemma.

Dr. Michael Karenfort, Kinderklinik Universität Düsseldorf
„Wir geben ständig Medikamente, wo wir nicht wirklich die Nebenwirkungen kennen, das heißt, es kann immer etwas passieren, was Unvorhergesehenes, sodass wir eigentlich immer da eine gewisse Unsicherheit haben und auch Risiken eingehen müssen, wenn wir Medikamente einsetzen, die so in der gleichen Art und Weise nur bei Erwachsenen getestet sind."

Doch nicht nur das: Weil die Tabletten nur für Erwachsene sind, können Kinder wie Lina sie gar nicht schlucken. Sie sind zu groß. Ihre Mutter muss sie zuhause zerstückeln und zerstampfen. Der Schutzfilm geht kaputt, dadurch schmecken sie sehr bitter. Lina kriegt sie nicht runter.

Linas Mutter
„Ich kann nicht verstehen, dass man da wirklich nicht versucht, irgendwas Erleichterndes für die Eltern und Kinder zu bringen, dass man eben das in Saftform oder Flüssigform oder halt so kleine Tabletten, dass die auch ein kleines Kind schlucken kann."

Wir versuchen herauszufinden, warum es seit vielen Jahren keine Verbesserung im Bereich Kinderarzneimittel gibt. Denn eigentlich schreibt eine EU-Verordnung vor, dass ab 2007 alle neuen Arzneimittel auch für Kinder getestet sein müssen. Aber wir hören von vielen Experten - es gibt kaum Fortschritte.

Die Kinderintensivstation der Uniklinik Göttingen. Prof. Thomas Paul ist Spezialist für herzkranke Patienten. Von neuen, nach der EU-Verordnung getesteten Kinderarzneien, kann er nur träumen. Es gibt sie so gut wie nicht in seinem Fachgebiet. Stattdessen muss er die bereits Vorhandenen auch in Zukunft einsetzen - davon ist kaum eins für Kinder zugelassen.

Die Eltern der kleinen Elisabeth wissen das. Sie hat einen Herzfehler, kämpft um ihr Leben. Das Problem mit den Arzneimitteln belastet die Eltern zusätzlich.

Elisabeths Mutter
„Man hat halt auch schon ein bisschen Angst, dass die Nebenwirkungen schlimmer sind, als die Wirkungen des Medikaments vielleicht."

Die kleinen Körper reagieren oft völlig anders als Erwachsene. Deswegen möchte Prof. Paul endlich eine Studie machen und ein Medikament für Kinder genau untersuchen, das bei Erwachsenen gegen lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen hilft. Aber er ist frustriert, wie wenig vorangeht.

Prof. Thomas Paul, Kinderherzklinik Universität Göttingen
„Die Hersteller haben daran kein Interesse, wir werden von da keine Unterstützung bekommen. Öffentliche Gelder zu bekommen, ist sehr schwierig, weil da auch immer wieder mit der Erwachsenenmedizin konkurrieren und unsere Zahlen immer klein sind."

Schwer kranke Kinder haben keine Lobby in der Politik. Das erlebte auch der niedergelassene Kinderkardiologe Dr. Martin Hulpke-Wette. Er muss immer mehr Kinder wegen Bluthochdruck behandeln.

Dr. Martin Hulpke-Wette, Kinderkardiologe
"Das ist das blutdrucksenkende Medikament, was ich einem zweieinhalbjährigen Kind gegeben muss. So sehen die Tabletten aus, und der Vater muss jetzt am Küchentisch entscheiden, wie er eine halbe Tablette gibt. Dann kommt manchmal auch so etwas dabei heraus."

Deshalb hatten er und Kollegen eine gute Idee: Sie wollten diesen Blutdrucksenker in Saftform bringen.

Dr. Martin Hulpke-Wette, Kinderkardiologe
„Das Besondere an dem Saft wäre, dass wir sicher sind, dass das Kind die richtige Menge des Medikaments erhält."

Es fand sich sogar eine Pharmafirma, die den Saft entwickelt hat. Trotzdem ist das Projekt gescheitert - aus Kostengründen.

Der Blutdrucksenker fällt unter die sogenannten Festbeträge. Festbeträge regeln, bis zu welcher Höhe die Krankenkassen die Kosten übernehmen - so steht es im Gesetz.

Für den Blutdrucksenker, die Erwachsenentabletten, erstatten die Krankenkassen maximal 11,38 Euro.
Der Saft hätte am Ende zwischen 35 und 60 Euro kosten müssen. Die Kassen hätten aber nur etwa 11 Euro bezahlt.

Die Kosten für teure Studien, die aufwändigere Herstellung bei kleiner Patientenzahl würden am Ende nicht wieder hereingekommen.

Dr. Martin Hulpke-Wette, Kinderkardiologe
"Bisher ist es uns nicht gelungen, einen Arzneimittelhersteller zu finden, der das einfach als gute Tat unternehmen würde, und der bewusst einen Verlust eingehen würde, um für Kinder eine kindgerechte Darreichungsform zu entwickeln."

Das Problem: Viele Arzneien, die bei Kindern eingesetzt werden, fallen unter die „Festbeträge".

Wie absurd die Situation ist, berichtet uns Prof. Jörg Breitkreutz. In seinem Labor sucht der international anerkannte Wissenschaftler nach Möglichkeiten, Medikamente für Kinder schmackhaft zu machen.
Er zeigt uns diesen Trinkhalm, der eine Arznei enthält. Diese Entwicklung einer Firma kam zwar auf den deutschen Markt, aber wurde gleich wieder zurückgezogen. Wegen der Festbeträge.

Prof. Jörg Breitkreutz, Pharmazeut Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
„Wir sind an mehreren internationalen Studien beteiligt, beispielsweise in England oder Frankreich. Und für mich macht es halt keinen Sinn, dass wir dort tätig sind und wenn die Produkte dann entwickelt sind und eigentlich nach Deutschland eingeführt werden könnten, wir hier nicht bereit sind, die Kosten dafür zu übernehmen."

Wir haken beim Spitzenverband der Krankenkassen nach, warum hier keine Abhilfe geschaffen wird.

Florian Lanz, GKV-Spitzenverband
„Die gesetzlichen Vorgaben sind eindeutig. Selbst wenn ein Arzneimittel, speziell für Kinder gemacht ist, dürfen wir bei den Festbeträgen keine Ausnahmen machen. Sie gelten für Kinder genauso wie für Erwachsene. Da sind die Vorgaben eindeutig."

Prof. Jörg Breitkreutz, Pharmazeut Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
„Meiner Meinung nach könnte man hier eine Ausnahme schaffen von der gegebenen Festbetragsregelung. So viele Kinder, die ernsthaft erkrankt sind und diese Medikamente brauchen, gibt es gar nicht. Und es würde kein Riesenschaden entstehen für die Kassen."

Das Bundesgesundheitsministerium könnte das Problem anpacken. Wir haben angefragt, warum für Kinderarzneien nicht eine Ausnahme geschaffen wird. Für die Fragen von KONTRASTE hatte Gesundheitsminister Daniel Bahr keine Zeit, er war auf PR-Tour. Man sieht bei Kindern keinen Handlungsbedarf.

Kein Handlungsbedarf? Das sehen Eltern von kleinen Kindern ganz anders.

Beitrag von Caroline Walter und Alexander Kobylinski