Junge Muslimin (Quelle: rbb)

- Ausstoßen reicht doch – wie Berliner Schüler über Frauen und Ehre denken

Entsetzen über den jüngsten Ehrenmord. Entsetzen auch über die Legitimierung der Tat durch drei Berliner Schüler. Für die Mehrheit der türkischen und arabischen Jugendlichen ist es unvorstellbar, die eigene Schwester zu töten. Dennoch sind viele überzeugt: Freiheit, Unabhängigkeit und Freizügigkeit steht Frauen nicht zu. Das ist eine Frage der Ehre. Katrin Aue über den verhängnisvollen Import von Traditionen.

Die tödlichen Schüsse auf die junge Frau haben uns wach gerüttelt: ermordet am helllichten Tag, mitten in Berlin. Die Tat ist noch nicht aufgeklärt. Aber vieles deutet darauf hin, dass sie sterben musste, weil sie frei und unabhängig leben wollte. Das aber verstößt gegen die so genannte Ehre mancher Einwandererfamilien. Ein finsteres Menschenbild, vor allem Frauenbild gibt dem Mann Gewalt über seine Frau, seine Schwester, seine Tochter. Wir sind mitten in Deutschland und im Jahr 2005. Und junge Leute, die hier geboren sind, setzen die menschenverachtenden Traditionen fort. Katrin Aue wollte wissen, wie Jugendliche in Berlin darüber denken. Eine weite Reise in die Schule – von nebenan.

Hatun Sürücü. Ermordet am 7. Februar. Vermutlich von einem ihrer Brüder. Sie hinterlässt ein fünfjähriges Kind. Wahrscheinlich ein Mord im Namen der Familienehre.

Donnerstag Morgen, in der Rütli-Oberschule in Neukölln. Von neunzehn Schülern dieser Klasse haben vier deutsche Eltern. Klassenlehrer Peter Mencke spricht den grausamen Mord an der jungen Mutter an.

Lehrer
“Ihr wisst ja, es ging um die türkische Frau, die in Tempelhof erschossen wurde. Weiß jemand schon, wer es war?”

Einige Mädchen haben Angst, vor der Kamera darüber zu sprechen. Sie setzen sich um. Den Mord an der jungen Frau lehnen alle ab. Doch die meisten sind sich einig: Eine Frau darf und muss auf irgendeine Art bestraft werden, wenn sie sich wie Hatun Sürücü benimmt. Die Jungen haben keine Hemmungen, den starken Mann raushängen zu lassen.

Ibrahim, 17 Jahre
„Wenn sieŽs doch macht, kriegt sie ein bisschen Stress. Dann wird erstmal mit ihr geredet. Und wenn sie dann nicht hören will, kriegt sie ein bisschen … Dresche. Ja, dann kriegt sie ein bisschen Prügel."
KONTRASTE
"Und das ist okay?"
Ibrahim, 17 Jahre
"Ja, das ist okay, weil Gewalt ist manchmal wirklich eine Lösung."

Solche Ausmaße kann Gewalt haben. Wo sind die Grenzen?

Jacqueline, 18 Jahre
„Sie werden es nie verstehen, weil hier ja eine andere Kultur in Deutschland herrscht.“

Jacqueline ist Christin aus Ex-Jugoslawien. Auch sie findet zwar nicht den Mord, aber die Bestrafung von vermeintlich aufsässigen Frauen legitim. Genau wie ihre muslimischen Mitschüler. Mit dem Glauben hat das für sie nichts zu tun. Sondern mit der Familienehre, die über der Freiheit von Frauen steht.

Jacqueline, 18 Jahre
„Ja, das ist eine Schande, wenn ein Mädchen sich einfach wie eine Schlampe benimmt. Jeder wird hinter ihr spucken."
KONTRASTE
“Und wann benimmt man sich wie eine Schlampe?"
Jacqueline, 18 Jahre
"Zum Beispiel Sex vor der Ehe. Das ist jetzt ein typischer Schlampenhinweis. Mein Gott, ich würde nie wieder mit ihr reden. Sie würde von der Familie verstoßen werden.“

Die Schande der Tochter isoliert die Familie von ihrer Umgebung, in Berlin-Neukölln genauso wie in ihrem Heimatdorf.

Ahmed, 17 Jahre
“Auf der Straße, die gucken dich schief an, spucken vor deinen Füßen, blamieren dich. Lästern, wenn du vor denen vorbeigehst, reden hinter deinem Rücken laut, so dass duŽs auch hörst. Sagen: Guck mal, die konnten sich nicht um die Tochter kümmern."

Die Ehre der Familie liegt angeblich zwischen den Beinen der Tochter. Für die Jungen eine sehr angenehme Auffassung von Familienverantwortung.

Ibrahim, 17 Jahre
„Wenn Mädchen einmal dreckig sind, sind sie für immer dreckig. Bei Jungs ist es so, wenn sie dreckig sind, das merkt man nicht.“

Einige Straßen weiter, im Neuköllner Rollbergviertel, der Mädchentreff Madonna. Vier von fünf Mädchen hier haben nicht-deutsche Eltern. Sie kommen hierher – für ein paar Stunden Freiheit. Freiheit im Verborgenen: Vor dem Tanzkurs ziehen sie die Vorhänge zu. Niemand soll einen Blick herein werfen. Denn sogar das Tanzen ist für einige der Mädchen verboten. Ein Zwiespalt: Denn sich mit Verboten zu arrangieren heißt auch: sich den Zuspruch der Familie zu sichern.

Dilek, 15 Jahre
„Diskos gehen darf ich nicht, ich darf vielleicht keinen Freund haben. Vieles darf ich eigentlich nicht.“
Dilek, 15 Jahre
"Macht dich das traurig?"
Dilek, 15 Jahre
"Einerseits schon, einerseits aber auch nicht. Ich finde es gut, wenn Mädchen wissen, wo die Grenzen sind.“

Yonca, 17 Jahre
„Meine Mutter, sie leidet schon darunter. Aber sie weiß, dass ich halt keinen Fehler mache und so, sie vertraut mir."
KONTRASTE
"Was wäre denn ein Fehler?"
Yonca, 17 Jahre
" Zum Beispiel, wenn ich über meine Grenzen gehe."

Die Grenzen - vorgegeben von den Männern. Im kurdischen Café genießt man die Freizügigkeit von fremden Frauen – so lange die eigenen Frauen sich nicht ebensolche Freiheiten herausnehmen.

Mehmet Arikan
„Sie hat auch Freiheit, aber es gibt auch Familienrecht bei uns. Also, sie kann auch jemanden lieben, wenn wir okay sagen, kann sie ihn auch heiraten. Aber wenn wir nicht okay sagen, das ist was anderes.“

Die schlimmste Schande bringt eine Tochter über die Familie, wenn sie Sex vor der Ehe hat. Die Folgen sind brutal:

Cengiz Bingöl
“Dann wird sie ausgestoßen von der Familie. Und sagen: Du bist nicht mehr unsere Tochter. Und die wird einfach aus der Familie raus.“

Zurück in der Rütli-Oberschule in Neukölln. Die meisten Schüler sind sich sicher: Schuld daran, dass die Mädchen ausgestoßen werden, ist deren Umgang mit Deutschen.

Ibrahim, 17 Jahre
„Hier in Deutschland ist es so: Die laufen mit deutschen Weibern rum, und dann werden die alle wie die.“

Shadi, 17 Jahre
"Wenn alle deutschen Mädchen mit anderen Jungs Sex haben und so, dann ist ja klar, wenn alle Leute über die reden und sagen: Ist ne Schlampe, Hure."

Verachtung für deutsche, freizügige Frauen. Und gleichzeitig sind sie begehrt.

Deniz, 16 Jahre
„Geile Beine, kurzer Rock, Top, High-Heels-Schuhe."
KONTRASTE
"Das findest du gut?"
Deniz, 16 Jahre
"Ja."
KONTRASTE
"Und wenn deine eigene Schwester so rumlaufen würde?"
Deniz, 16 Jahre
"Nein, darf sie nicht."

Diese Doppelmoral dient auch dazu, sich von den Deutschen abzugrenzen. Und das hat nicht nur mit dem Islam zu tun. Auch für Christen wie Jacqueline dient der Erhalt der Familienehre dazu, die eigene Identität zu stärken.

Ali, 16
„Wir sind stolze Türken, ihr seid Deutsche. Was soll man machen?“

Hatun Sürücü. Vermutlich musste sie sterben, weil ihrer Familie die so genannte Ehre heilig ist. Heiliger als das Leben der Mutter eines 5jährigen Kindes.

Die andere Seite von Fremdenfeindlichkeit ist übrigens Gleichgültigkeit. Wir haben sie ja nicht gerade mit Offenheit empfangen, wir haben uns nicht wirklich gekümmert. Erst nach vielen Jahren haben wir „Gastarbeitern“, „ausländischen Mitbürgern“ erlaubt, deutsche Staatsbürger zu werden. Und als solche müssen wir sie nun endlich auch behandeln.