Schild Staatsanwaltschaft (Quelle: rbb)

- Der Fall Joseph - Staatsanwaltschaft versagte bei den Ermittlungen in Sebnitz

Joseph Kantelberg-Abdullah: Am 22. November 2000 verhaftet die Dresdner Staatsanwaltschaft drei Jugendliche aus der Kleinstadt Sebnitz wegen dringenden Mordverdachts. KONTRASTE-Recherchen belegen, die Verhaftung, die weltweit für Aufsehen sorgte, ist auf Schlamperei und Unprofessionalität der Staatsanwaltschaft zurückzuführen.

Ja, zu Filz und Finanzgeschäften in Berlin kommen wir gleich - wir schauen aber zuerst noch einmal nach Sebnitz.
Eltern, die ein Kind verlieren, sind fassungslos vor Schmerz. So waren es die Eltern des kleinen Joseph, der 1997 in der Stadt Sebnitz in Sachsen in einem Schwimmbad ertrank. Dass sie nicht an einen Unfall glaubten, sondern an eine Gewalttat von jungen Neonazis - auch das war kein Wunder, die Familie hatte ihre Erfahrungen mit Rechtsradikalen gemacht. Was aber wirklich im Schwimmbad geschah, das zu ermitteln war nicht die Aufgabe der Eltern, sondern die von Polizei und Staatsanwaltschaft. Doch deren Untersuchungen waren kopflos und überstürzt: die Folge: drei grundlose Verhaftungen, hässliche Schlagzeilen. René Althammer über den Justizskandal, der eine ganze Stadt in Verruf gebracht hat.


Sebnitz Dienstag letzter Woche. Ministerpräsident Biedenkopf ist zu Gast - ein Geschenk hat er auch mitgebracht. Einige Millionen Mark will die Landesregierung in die Stadt pumpen.

O-Ton Kurt Biedenkopf (CDU), Ministerpräsident Sachsen
"Als einen Beitrag zur Wiederherstellung dessen, was vor dem November 2000 schon erarbeitet und erreicht worden war."

Sebnitz im November letzten Jahres: Ausnahmezustand.
Weltweit ist die Stadt in den Schlagzeilen.

1997 soll der 6jährige Josef Kantelberg-Abdullah im städtischen Freibad von Rechtsradikalen ermordet worden sein. Am hellichten Tag, in aller Öffentlichkeit. Ein Aufschrei geht durch Medien und Politik.

Fernsehberichterstattung
Tagesschau
"Erschüttert reagiert auch der Regierungssprecher Heye."
Nachtmagazin
"Immer mehr wird der Verdacht zur Gewißheit, dass das Kind ermordet wurde."
Ministerpräsident Kurt Biedenkopf
"Wenn zwei, drei oder vier Erwachsene sich eingemischt hätten, wäre das nicht passiert."

Vier Tage sitzen die angeblichen Mörder - zwei junge Männer und eine Frau - im Gefängnis. Dann wird klar: sie sind unschuldig. Ein Fiasko. Was folgt, ist die Suche nach Verantwortlichen.

Klaus Hardraht (CDU), Justizminister Sachsen, 27.11.2000
"Es wird die Frage sein, wie gerade im Medienbereich, auch Sie alle, diesen Schaden für die Stadt wieder gutmachen können."

Für die Bürger von Sebnitz trägt vor allem einer die Hauptschuld:


"Die Bildzeitung."
"Die hat ja auch solche Dinger in die Zeitung gesetzt, was vorne und hinten nicht hinhaut."
"So direkt schuld, na ja vielleicht die Bildzeitung."

Monatelang hatte "Bild" recherchiert. Doch die Geschichte von Josephs Tod hat sie erst veröffentlicht, nachdem die Dresdner Staatsanwaltschaft die drei Verdächtigen verhaftet hatte.

Karl-Günther Barth, BILD-Chefredaktion
"Da haben wir gesagt, wenn also der Staatsanwalt junge Leute unter dringendem Mordverdacht festnimmt, in U-Haft steckt und ein deutscher Richter das auch noch genehmigt hat. Und wir wußten, dass auch der Richter die Zeugen vernommen hatte, dann können wir mit der Geschichte rausgehen."

Bestätigt wurde "Bild" noch am gleichen Tag von der Dresdner Staatsanwaltschaft:

Claus Bogner, Staatsanwaltschaft Dresden
"Wir haben entsprechende Zeugenaussagen jetzt verifiziert, haben auch richterliche Vernehmungen veranlaßt, diese haben uns am Dienstag veranlaßt, Haftbefehl gegen drei Personen zu erwirken."

Sie war eine der zu Unrecht Verdächtigten. Uta Schneider, 22 Jahre. Normalerweise studiert sie in Braunschweig Pharmazie. Dort wird sie am 22. November verhaftet. Der Vorwurf: gemeinschaftlich begangener Mord, obwohl sie am Todestag gar nicht im Schwimmbad war.

Uta Schneider
"Der Haftbefehl war absolut nicht glaubhaft für mich. Damit war nicht ich gemeint. Ich konnte mich darin überhaupt nicht wiederfinden. Es war halt wirklich einfach nur ein Märchen für mich, was dort gestanden hat. Und ich hab es nicht realisiert, dass ich wegen diesem Schrieb im Gefängnis sitze."

Das Freibad in Sebnitz.
Im Haftbefehl steht, zuerst versetzen die zwei Männer Josef mehrere Schläge. Zu diesem Kiosk sollen sie den schreienden Jungen dann angeblich gezerrt haben, wo sie ihm zusammen mit Uta Schneider etwas einflößen. Josef taumelt. Einer der Männer soll ihn mit einem Elektroschocker traktieren. Dann, so der Haftbefehl weiter, schleifen die Männer Josef quer durchs Freibad zum Schwimmerbecken, werfen ihn ins Wasser und springen mehrfach auf seinen Körper.
Heute ist klar: es war kein Mord, es gab keine Gewalt, Josef starb an Herzversagen.

Uta Schneider
"Ich der Neonazi und Kindermörder. Also, das... Unvorstellbar ist es für mich." "Tut es weh?" " Es tut nicht direkt weh, aber es macht mir Angst schon. Weil ich nicht weiß, was die anderen Leute, jetzt außerhalb von Sebnitz, jetzt für eine Meinung von mir haben."

Was hat die Staatsanwaltschaft bis zur Verhaftung getan? Warum hielt sie über zwei Monate an der Theorie fest, daß das Kind in aller Öffentlichkeit ermordet wurde?

Claus Bogner, Staatsanwaltschaft Dresden
"Wir hatten zum damaligen Zeitpunkt schriftliche Erklärungen, die in Richtung des Bestandes des Mordes hingedeutet haben. Hatten ein Rechtsgutachten eines kriminologischen Instituts, das zumindest besagte, dass nicht auszuschließen ist, dass diese schriftlichen Erklärungen glaubhaft sind. Und hatten drei richterliche Vernehmungsprotokolle von drei Hauptbelastungszeugen, die uns den Tatbestand des Mordes belegt haben."

Kontraste hat die Ermittlungsunterlagen der Staatsanwaltschaft mit Experten geprüft. Das Ergebnis: Bis zur Verhaftung wurde schlampig und unprofessionell gearbeitet. Sebnitz ist nicht nur ein Medien-Skandal sondern vor allem ein Justizskandal.

Im September 2000, drei Jahre nach dem Unfall, wird der Fall neu aufgerollt. Josephs Eltern haben über Monate schriftliche Erklärungen möglicher Zeugen zusammengetragen und ein kriminologisches Privatgutachten erstellen lassen.

Ob die vorliegenden Erklärungen überhaupt glaubwürdig sind, hat die Staatsanwaltschaft bis zur Verhaftung nicht überprüft.

O-Ton Claus Bogner, Staatsanwaltschaft Dresden
" Wir hatten zu dem damaligen Zeitpunkt auch keine Kenntnis darüber, wie die schriftlichen Erklärungen zustande gekommen sind."

Das Institut für Rechtsmedizin in Dresden. Hier wurde Joseph 1997 untersucht.
Weder die Gerichtsmediziner noch der damals anwesende Onkel des Jungen - ebenfalls ein Mediziner - fanden Spuren von grober Gewalteinwirkung, gar von Sprüngen auf den Kinderkörper.
Der Leiter der Gerichtsmedizin war entsetzt, als er aus der Zeitung erfuhr, wie Joseph umŽs Leben gekommen sein soll.

Prof. Dr. Erich Müller, Institut für Rechtsmedizin, Dresden
"Erstmal dachte ich, wir haben die falsche Leiche seziert. Denn die Befunde, die entstehen müßten bei dieser Gewalteinwirkung, waren einfach nicht da."

KONTRASTE hat den Haftbefehl mit der Beschreibung des Tathergangs dem Direktor der Gerichtsmedizin an der Berliner Charité vorgelegt. Sein Fazit: Wenn die Männer auf Josef herumgesprungen wären, dann hätte man das bei der Obduktion nicht übersehen können.

Prof. Dr. Gunther Geserick, Institut für Rechtsmedizin, Charité Berlin
"Erwarten würde ich allerdings grobe Hämatome und es wäre auch sehr wahrscheinlich, dass es zu Frakturen kommt, z.B. zu Rippenbrüchen, und es wären auch innere Verletzungen, insbesondere Leber, Milz wären hier besonders gefährdert, Magen, Darm. Wenn es Rippenbrüche gibt auch Lungenverletzung. Irgendwas in dieser Richtung würde ich erwarten."

Wurden die Gerichtsmediziner vor den Verhaftungen überhaupt konsultiert?

Claus Bogner, Staatsanwaltschaft Dresden
"Natürlich war das Gerichtsmedizinische Institut aus Dresden Ansprechpartner für uns. Das Gutachten wurde damals 1997 erstellt, so dass wir unmittelbaren Kontakt hatten mit den Gutachtern."

Doch davon wissen die Dresdner Gerichtsmediziner nichts. Sie haben erst nach der Verhaftung erfahren, wie Joseph umgebracht worden sein soll.

Prof. Dr. Erich Müller, Institut für Rechtsmedizin, Dresden
"Wir kannten weder die Vorwürfe, noch haben wir mit dem Staatsanwalt über diesen Fall gesprochen."

Die Fakten wurden also gar nicht geprüft. Die Erklärung dafür ist aberwitzig. Zuerst heißt es:

Claus Bogner, Staatsanwaltschaft Dresden
"Wir konnten zum damaligen Zeitpunkt ausschließen, dass die extremen Gewalteinwirkungen, die von einzelnen Zeugen beschrieben wurden, auch tatsächlich durchgeführt wurden."

Warum dann der Haftbefehl? Hat die Staatsanwaltschaft selber nicht geglaubt, was im Haftbefehl steht?

Claus Bogner, Staatsanwaltschaft Dresden
"Natürlich haben wir daran geglaubt, dass auf den Körper des Kindes eingewirkt wurde. Und auch durch Gewalt eingewirkt wurde. Aber das Ergebnis der Beantragung eines Haftbefehls ist ja nicht nur auf ein gerichtsmedizinisches Gutachten zurückzuführen, sondern ist das Ergebnis einer Gesamtschau des vorliegenden Ermittlungsergebnisses."

Zur Gesamtschau gehören auch diese drei Zeugenaussagen. Sie scheinen auf den ersten Blick den Verdacht der Staatsanwaltschaft zu untermauern.

Das Dresdner Amtsgericht. Für den 16. Oktober werden die Zeugen vorgeladen. Der Grund, in ihren schriftlichen Erklärungen haben sie den Tathergang besonders detailreich geschildert.

Die Staatsanwaltschaft beschließt, die Zeugen sollen von einem Staatsanwalt und einem Ermittlungsrichter gemeinsam vernommen werden. Das hat einen höheren Beweiswert im späteren Verfahren.
Doch nur ein Zeuge erscheint zum Termin.

Der Junge ist 15 Jahre alt, wohnt in Sebnitz und geht in die 9. Klasse. Gleich zu Anfang erzählt er, daß er im sogenannten Sprudelbecken war und nichts gesehen hat. Daraufhin wird die Vernehmung unterbrochen - für 28 Minuten. Dann hat der Junge plötzlich doch etwas gesehen. Jetzt sagt er aus, daß die Männer Josef zuerst bedrängt haben sollen, ihn dann ins Wasser warfen und hinterhersprangen.

Thomas Wüppesahl ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizisten. Wir wollten wissen, wie er den offensichtlichen Sinneswandel des Zeugen bewertet.

Thomas Wüppesahl, Bundesarbeitsgemeinschaft kritische Polizisten
"Es läßt den Schluss zu, da muss ganz viel gesprochen worden sein, in so einer halben Stunde. Die gesamten Vernehmungen sind so unsorgfältig gemacht, dass man nicht das Gefühl hat, als jemand der außenstehend mit Fachkunde das ganze liest, dass hier die Regeln ganz sauber eingehalten wurden."

Der anderen beiden Zeugen, ein ebenfalls 15jähriger und ein 21 jähriger erscheinen erst nach polizeilicher Vorführung - am 21. November.

Ein Zeuge erzählt, daß Joseph auf der Wiese geschlagen wird und sich wehrt, der andere sagt, er geht einfach mit den Männern mit.
Einer meint, Josef wird am Kiosk ein Getränk eingeflößt, der andere sagt zuerst, es war am Beckenrand. Als ihn die Vernehmer erinnern, fällt ihm ein, daß es doch am Kiosk war. Immer wieder werden die Zeugen an ihre schriftlichen Erklärungen erinnert. Entspricht das dem kriminalistischen Handwerk?

Thomas Wüppesahl, Bundesarbeitsgemeinschaft kritische Polizisten
"Es sind teilweise Suggestivfragen gestellt worden. Es wurde immer nur in eine Richtung gefragt. Und das läßt schließen, dass auch die Vernehmungsbeamten bereits ein Ermittlungsergebnis, nicht nur was üblich ist - als kriminalistische Arbeitshypotese- im Kopfe hatten und genau ergebnisorientiert arbeiteten."

Und es geht weiter: Erst beschreibt ein Zeuge 50 Skinheads, die dann doch nicht da waren. Dann heißt es zur Frage, ob und wie auf Joseph herumgesprungen wurde: Es sei nur einer auf den Körper des Jungen gesprungen, später ist sich der Zeuge dann sicher, daß es beide Männer waren.

Thomas Wüppesahl, Bundesarbeitsgemeinschaft kritische Polizisten
"Zu diesen Aussagen hätten zwingend weitere kriminalistische Ermittlungen durchgeführt werden müssen, bevor ein Richter, nach unserem Dafürhalten als kritische Polizisten drei Haftbefehle auf der Basis dieser Aussagen erläßt."

Warum also hat die Staatsanwaltschaft trotz aller Widersprüche ohne jede weitere Prüfung sofort Haftbefehl beantragt?

O-Ton Claus Bogner, Staatsanwaltschaft Dresden
"Jede weitere Ermittlungshandlung hätte in den Bereich Sebnitz unmittelbar ausgestrahlt, so dass die Gefahr bestand, dass auch die drei Tatverdächtigen davon Kenntniss haben, dass gegen sie ermittelt wird. Und damit bestand die erhebliche Fluchtgefahr."

Fluchtgefahr?
Uta Schneider wußte schon lange von den Verdächtigungen.

Uta Schneider
"Von mir persönlich hab ich ganz, ganz wenig gehört. Da gab es ein Gerücht im Sommer letzten Jahres. Aber Sandro und Maik sind öfters mal auch angesprochen worden von den Kantelbergs."

Der Fall Sebnitz - mit den Millionen für die Stadt wird ein Justizskandal verschleiert. Ministerpräsident Biedenkopf macht gern Front gegen die Medien - wann kümmert er sich endlich um die Staatsanwaltschaft?

O-Ton Uta Schneider
Frage:
"Hat sich irgendwer mal bei Ihnen entschuldigt."
"Nee, niemand."