- Integration ungewollt - fehlende Gelder behindern Chancen für Kinder an deutschen Schulen

Der ritualisierte Streit um die Sarrazin-Thesen hilft vor Ort nicht wirklich weiter. An Brennpunkten wie Berlin-Kreuzberg weiß man dagegen, was hilft: Wertschätzung der Kinder mit moslemischem Hintergrund und interkulturelle Kompetenz. Doch die Kosten für die notwendige Fachbildung von Lehrern scheuen Politik und Verwaltung.

Die Integrationsdebatte: So kontrovers sie derzeit auch geführt wird - in einem Punkt sind sich alle einig: Der Schlüssel für Integration ist Bildung und das heißt für Migranten: Deutschlernen, am besten schon im Kindesalter. Das lässt sich leicht politisch einfordern, aber: Wie bringt man Migrantenkindern die deutsche Sprache in der Praxis am besten bei - wenn das Elternhaus hier versagt? Andrea Everwien zeigt Ihnen eine Schule in Berlin, die ein nachahmenswertes Konzept zur Integration gefunden hat.

Altan
„Ich spreche türkisch und deutsch."
Lukas
„Ich spreche deutsch, serbisch und englisch aus der Schule."
Gresa
„Ich spreche albanisch, weil das meine Muttersprache ist."
Leyla
„Ich heiße Leyla und spreche deutsch."

Eine fünfte Klasse in Berlin-Kreuzberg: Hier sprechen die Kinder viele verschiedene Sprachen. Ihre Schule ist die Hunsrück-Grundschule.

60 bis 70 Prozent der Kinder haben deutsch nicht als Muttersprache gelernt. Wenn sie eingeschult werden, gibt es oft Konflikte, weil sie keine gemeinsame Sprache haben.

Doch an dieser Schule hat man eine einfache Methode entwickelt, mit den Unterschieden fertig zu werden.

Friederike Terhechte ist eine erfahrene Lehrerin. Sie hat beobachtet: Ein Grund für die Aggressivität von Kindern nicht-deutscher Herkunft ist die Verdrängung ihrer Muttersprache aus dem Unterricht.

Friederike Terhechte, Lehrerin
„Wenn ich ein Kind immer in die Enge treibe, wenn ich alles, was es kann, nicht wertschätze, wenn ich alles, was es mitbringt, nicht wissen will - was lasse ich dem Kind denn dann, außer, dass es auf den Tisch haut oder sich zum Klassenclown entwickelt? Weil alles, was es sonst kann, interessiert ja nicht. Es kriegt ja keine Beachtung in dem, was es mitbringt. Also, diese Entwicklung von vermeintlich Kindern nicht deutscher Herkunftssprache, die so besonders problematisch sind, sind selbstgemachte Probleme zum großen Teil."


Die Lehrerin versteht die Vielsprachigkeit nicht als Problem - sondern als einen Schatz. Sie nutzt die verschiedenen Sprachkenntnisse der Kinder im Unterricht. Zum Beispiel bei der Pluralbildung.

Friederike Terhechte, Lehrerin
„Die Flaschen - die Flasche. Die Bücher - das Buch. Da sind wir beim Türkischen. Kitaplar. Welche türkischen Wörter habt ihr denn entdeckt?“
Özgür
„- kitaplar, also: die Bücher, defteler bedeutet die Hefter."

Friederike Terhechte, Lehrerin
„Dies Strahlen in den Gesichtern, zu sehen, da ist was, was ich kann. Und dieses erstaunte Sich-Zurücklehnen der deutschen Kinder, zu sehen: ‚Was ist denn das?‘ Und dass eine Emma einen Özgür fragen muss: ‘Was heißt das denn?‘, ist ein Erlebnis, das sie sonst nicht kennt."

Die türkischen Kinder wissen: Für den Plural hängt man in ihrer Sprache ganz einfach „-lar" oder „- ler" an das Stammwort. Im Englischen, das haben die Kinder schon gelernt, gibt es ein Plural -s. Und im Deutschen? Da entdecken sie jetzt neun verschiedene Möglichkeiten, indem sie verschiedene deutsche Pluralwörter miteinander vergleichen.

Die gegenseitige Wertschätzung im Unterricht überträgt sich auf den Schulhof. Beim Kartenspiel zählt, wer das beste Blatt hat - und nicht, wer deutscher, türkischer oder albanischer Herkunft ist - oder wer am härtesten zuschlagen kann.

KONTRASTE
„Gibt es bei Euch Stress mit den türkischen oder arabischen Kindern?"
Gresa
„Nein!"

Mai-Lynn
„Ich spiel heute mit einer Türkin und einer Argentinierin, einem argentinischen Mädchen."
KONTRASTE
„Und die türkischen Jungs, nerven die manchmal rum?"
Mai-Lynn
„Naja, alle Jungs!!"

Diego
„Wegen den Ländern ist jetzt nix. Also, so wie ich das jetzt verstehe."
KONTRASTE
„Und du spielst auch mit den türkischen Jungs?"
Diego
„Ja, ja, das ist auch einer meiner besten Freunde, ein Türke."

Jim
„Die türkischen Kinder finde ich auch ganz nett, viele von denen sind sogar meine Freunde. Ja."

Dass alle Schüler durch den Vergleich ihrer Sprachen gutes Deutsch lernen - das ergibt sich ganz nebenbei. Und die, die deutsch als Muttersprache hatten, profitieren auch: sie lernen, systematisch über Sprache nachzudenken. Nur eines verwundert: dass diese Methode nicht längst in alle Schulbücher Eingang gefunden hat.

Da kann man nur sagen: Nachahmung erwünscht!


Autorin: Andrea Everwien