Junge Türkin in Schule (Quelle: rbb)

- Türken in Berlin - Integration ohne Chancen?

Berlin-Kreuzberg: 40 Prozent der Bewohner sind Ausländer, die meisten kommen aus der Türkei. Zwischen Islam und westlicher Moderne: wie funktioniert die Integration?

Guten Abend, meine Damen und Herren, willkommen bei Kontraste.

Deutschland ist ein Einwanderungsland, ob wir das wollen oder nicht. Daran knüpft sich die Frage: Wieviel Einheitlichkeit braucht diese Gesellschaft und wieviel Vielfalt kann sie ertragen, damit uns der Laden nicht um die Ohren fliegt. Die Debatte darüber führen die Deutschen vor allem unter sich - voller Vorurteile. Deshalb stellt Kontraste heute einen Mann vor, einen gebürtigen Türken, ihn treibt die Frage nach der Gemeinsamkeit in dieser Gesellschaft um und er nimmt dabei das Verhalten der Zugewanderten kritisch unter die Lupe.
Anja Dehne: Die Deutschen als Fremde.


Berlin-Kreuzberg, U-Bahnstation Görlitzer Bahnhof. Gülizar - statt Görlitzer sagen Bewohner dieses Stadtteils. Denn das ist für viele hier einfach besser auszusprechen. Gülizar ist türkisch und heißt gelbe Rose.

Kreuzberg, ein Stadtteil mitten in Berlin: Nirgendwo sonst ist Deutschland so türkisch, wie hier. Fast jeder zweite in diesem Bezirk ist ein Ausländer und fast jeder Ausländer ist ein Türke.

Zwei mal in der Woche begegnen sich Deutsche und Türken eher zufällig auf dem Wochenmarkt - engere Kontakte gibt es selten. Man lebt hier nebeneinander - zum Bedauern vieler, auch mancher Türken.

Öscan Mutl
"Es kann einfach nicht hingenommen werden, daß Menschen seit Jahren, seit Jahrzehnten teilweise in einem Bezirk zusammenleben, aber total andere Wege gehen. Es nicht mehr ein Miteinander gibt."

Der das sagt, weiß, wonvon er redet. Seit 25 Jahren lebt Öscan Mutlu hier im Kiez. Geboren in der Türkei, aufgewachsen in Kreuzberg. Er hat einen deutschen Paß und einen Job als Ingieneur. Ihm, sagt er, geht es besser als den meisten seiner Landsleute.

Öscan Mutlu
"Ich hab einen gesicherten Arbeitsplatz, meine Frau ist selbstständig, mein Kind geht in eine hervorragende Schule."

Die Bilderbuchkarriere eines Gastarbeiterkindes - Integriert und erfolgreich, 29 Jahre alt ist Öscan Mutlu. Seine Eltern kamen aus Anatolien, um Geld zu machen; inzwischen sind sie arbeitslos, wie viele hier. Die, die es sich leisten können, ziehen weg - Deutsche wie Türken. Wer bleibt ist in der Regel arm und arbeitslos.

Öscan Mutlu
"Bei den Türken kommt hinzu, daß sie sich auch auf Grund des Frustes, den sie nach 30 Jahren Migration immer noch erleben, in die eigenen Wurzeln zurückziehen, plötzlich viel mehr an ihrem Glauben festhalten, als es vor Jahren mal der Fall war."

Den Islam toleriert Öscan Mutlu, solange der Glauben nicht als Abgrenzung gegenüber Deutschen mißbraucht wird. In die größte Moschee im Kietz geht er selbst aber nicht zum Beten.

Öscan Mutlu
"Ich selbst bin nicht religiös und ich gehe auch nicht zu einer Moschee, aber was man von dieser Moschee oder aus dem Verhalten der Mitglieder dieser Moschee ableiten kann, ist, daß dort sicherlich nicht von einem positiven Zusammenleben zwischen Deutschen wie Nichtdeutschen oder zwischen Deutschen und Muslimen gepredigt wird."

Sein Vorwurf: Prediger verkünden Hetzparolen gegen Integration.
Jeden Freitag um 13.30 kommen die Gläubigen zum Gebet zusammen. Diese Moschee wird von der Organisation Milli Görüs geführt. Milli Görus, heißt nationale Weltsicht und steht für eine Mischung aus islamischem Extremismus und türkischem Nationalismus. Zu antideutschen Parolen will sich keiner äußern. Man zieht sich zurück auf Allgemeines.

Moscheebesucher
"Der Islam da gibts die Trennung nicht zwischen Glauben und Politik. Weil Islam beinhaltet alles: Das irdische Leben, als auch das Leben im Jenseits."

Und nach kurzer Diskussion kommt einer, der die Leute auffordert nichts mehr zu sagen. Die Organisation wird seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie gilt als reaktionär und islamistisch. Ihre Funktionäre verteufeln die westliche Welt. Milli Görüs ist ein Abgleger, der in der Türkei verbotenen islamischen Wohlfahrtspartei.

Öscan Mutlu
"Ich finde es ist nach 30, 40 Jahren endlich an der Zeit, daß die Menschen ihre Koffer auspacken, daß sie aufhören mit dem Kopf in der Türkei und mit den Beinen in Deutschland zu leben. Man muß einfach aufeinander zugehen, man muß einfach sich zu dieser Gesellschaft, die multikulturell - in Anführungsstrichen sage ich das mal, weil jeder das in ne andere Ecke zieht - ist. Man muß sich dazu bekennen, daß man Teil dieser bundesrepublikanischen Gesellschaft geworden ist."

30 Prozent der Ausländer in Kreuzberg sind arbeitslos, ihre Chancen stehen schlecht. Immer mehr Türken suchen Halt in türkischen Organisationen. Auch Milli Görüs - mit bundesweit 26 000 Mitgliedern - hat in Kreuzberg Zulauf. Vor allem von jungen Leuten. Ihre Probleme sieht auch Öscan Mutlu. In Deutschland nicht zuhause; fremd in der Türkei. Islamisten geben ihnen ein Selbstwertgefühl. In diesem Hinterhof die Jugendetage des Vereins.

Öscan Mutlu
"Ich habe auch als Kind und Jugendlicher derartige Jugendetagen vermieden, weil ich sehr wohl wußte, daß bei derartigen Etagen die Türken unter sich sind. Daß die Türken sich untereinander austauschen über die Belange, über Dinge die in der Türkei passieren, informieren. Nur und nichts anderes."

Ausschließlich türkische Bücher und Videos, nur für Mitglieder, schon am Eingang zur Etage. Zum Vorwurf, daß hier ein Rückzug aus der deutschen Gesellschaft propagiert wird, dürfen sich die Jugendlichen nicht äußern. Alles ist straff organisiert. Interviews sind nur mit ausgewählten Personen gestattet. Zum Beispiel mit diesem Mann: Achmed Algan beklagt, daß es türkische Jugendliche gibt, die andere Interessen haben, als sich hier zu engagieren.

Achmed Algan
"Was haben denn die Jugendlichen für Interessen? Das muß die deutsche Gesellschaft besser wissen, als wir. Die hat uns unsere Jugendlichen weggenommen."

KONTRASTE
"Wie meinen Sie das?"

Achmed Algan
"Na die Jugendlichen sind hier großgeworden, die sind uns entfremdet."

Die türkische Jugend gehört den Türken - Eine Sicht von Milli Görüs.

Achmed Algan
"Das ist ja hier ne Jugendetage von Milli Görüs. Sind sie da Mitglied? Nein Sie sympathisieren mit der Organisation? Wenn Sie mir sagen welche, Organisation, sage ich ob ich die kenne. Na, Milli Görüs. Kennen Sie nicht?
Die Mitglieder bekennen sich nicht zu .... Ziele zu durchschauen."

Daß die Organisation Milli Görüs vertuscht, kritisiert auch dieser Mann. Erol S. war Mitglied, inzwischen ist er ausgeschieden. Zwei mal ist er seither zusammengeschlagen worden. Die Antwort auf seine kritischen Fragen - ein Faustschlag ins Gesicht. Ihm zeigen wir die Bilder aus der Jugendetage.

Erol S
"Ich kenne diesen Mann, es mag ja sein, daß er kein Mitglied ist, aber hier steht doch Liste der Abteilungsleiter von der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, Berlin. Und da steht Achmed Algan, zuständig für das Islam Kolleg. Wenn dieser Kollege nun angeblich mit Milli Görüs nichts zu tun hat, warum taucht dann sein Name in dieser Liste auf. Ich habe keine Angst, ich trete hier gegen zehntausende dieser Mitglieder an. Diese Leute müssen doch dazu stehen, was sie tun. Aber leider wird hier nur mit Lügen gearbeitet. Muslim zu sein, heißt aber in meinen Augen ehrlich zu sein."

Kaum einer wagt es, den Verein zu kritisieren. Kritik wird als Angriff aufgefaßt. Das erzeugt Angst.
Auch in dieser islamischen Privatschule will man sich offiziell zu den Verbindungen mit Milli Görüs nicht bekennen. - Die Schule: Staatlich gefördert mit 800 000 Mark im Jahr vom Berliner Senat. Trägerverein ist das Islam Kolleg. Jener Verein, den Milli Görüs als Abteilung führt.

Öscan Mutlu
"Demzufolge finde ich, sollte der Staat die Finger aus solchen Institutionen lassen und nicht auch noch mit Geld derartige desintigrative Institutionen fördern."

Die Schule beruft sich auf das Recht zur Religionsfreiheit. Das Islam Kolleg sei unhabhängig, habe mit Milli Görüs nichts zu tun.

Schulleiterin
"Das kann jetzt sein, daß bei den Eltern einige da dabei sind, aber nicht von den Verantwortlichen."

über 100 Kinder müssen jedes Jahr hier abgewiesen werden. Die islamische Grundschule ist in Kreuzberg populär.

Öscan Mutlu
"Ich würde mein Kind schon deshalb nicht hier herschicken, weil ich nicht religiös bin, aber es kommt noch ein schwerwiegender Fakt hinzu: nämlich die Tatsache, daß keine deutschen Kinder an dieser Schule vorhanden sind, so daß es auch nicht zu einem Austausch kommen kann."

Ein Türke kritisiert Türken. Der politische Islam isoliert.



Auch Öscan Mutlu brauchte Mut dazu, um vor die Kamera zu treten. Denn die wenigen in Berlin-Kreuzberg, die mit ihm gleichen Sinnes sind, haben angst, öffentlich zu reden. Sie fürchten sich vor Fundamentalisten, die einschüchtern, die Druck ausüben, die sogenannte Abtrünnige verfolgen und die auch vor Gewalttaten nicht zurückschrecken. Öscan Mutla ist ein Außenseiter, auch in seiner Partei, dem Bündnis '90/Die Grünen. Denn er fügt sich nicht ein in die Vorstellung von der multikulturellen Gesellschaft, die angeblich nur an bornierter Deutschtümelei scheitere.