- Die Ratlosigkeit der Politik - Geschlossene Heime für Kinder?

Was tun mit schwer kriminellen Kindern? Immer wieder werden sogar Elfjährige aufgegriffen, die mit Drogen dealen oder gewalttätig sind. Und immer wieder werden sie laufen gelassen. Viele Politiker fordern nun geschlossene Heime.

Das hat uns alle schockiert: Elfjährige, die mit Heroin dealen. 13-jährige, die als Drogenkuriere arbeiten. Bittere Realität in deutschen Großtädten. Wie umgehen mit solchen Kindern, die strafunmündig sind? Darüber wird jetzt diskutiert. Und die Antwort liegt für viele erschreckend nahe: Wegsperren, diese Kinder. Ab ins geschlossene Heim, sagen sie. Sicher, kriminellen Kindern muss man ganz klar Grenzen setzen – aber geschlossene Heime, die brauchen wir nicht. Es gibt sie nämlich schon, nur in anderer und sogar geeigneterer Form. Norbert Sigmund und Jo Goll.

Berlin-Neukölln. Heroin-Dealer in der U-Bahn, manche erst elf Jahre alt. Arabische Drogenbanden setzen bewusst Kinder ein. Denn unter 14-jährige sind nicht strafmündig.

Selbst wenn die Polizei Kinder auf frischer Tat fasst, sperrt sie sie nicht ein, sondern sie muss sie an Eltern oder Jugendämter übergeben. Meist sind die Kinder noch am selben Abend wieder frei und machen einfach weiter.

Ein angeblich 13-jähriger, der die Behörden fast ein Jahr lang narrt. Zehn Mal wird er als Drogenhändler gefasst. Oder dieser Elfjährige, 14 Mal auf frischer Tat ertappt. Meist konnte er schon am nächsten Tag weiterdealen. Die Polizei frustriert – ebenso der Bürgermeister von Neukölln:

Heinz Buschkowsky (SPD), Bürgermeister Berlin-Neukölln
„Die Behörden scheinen nicht, machtlos zu sein. Sie sind es.“

Angeblich machtlose Behörden – eine Steilvorlage für die Boulevardpresse und einige Politiker. Immer lauter der Ruf nach Gesetzesverschärfungen.

Nach dem Motto „kriminelle Kinder hinter Schloss und Riegel“ will Bayerns CSU-Innenminister unter 14-jährige in „geschlossenen Einrichtungen“ unterbringen. Sein Niedersächsischer CDU-Kollege verlangt „geschlossene“ Heime. Und mit Berlins Regierendem Bürgermeister springt ein Sozialdemokrat auf die populistische Welle: „Kriminelle Kinder wegsperren“. Kurz darauf macht Wowereit einen Rückzieher.

Die Wahrheit ist: Schärfere Gesetze sind gar nicht nötig. Fachleute wie Rechtsprofessor Christian Bernzen ärgern sich über solche Parolen:

Prof. Christian Bernzen, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
„Die rechtlichen Möglichkeiten zu einem effektiven Schutz der Kinder und auch im Übrigen der Gesellschaft bestehen, und solche Debatten lenken eigentlich davon ab, dass sie nicht genutzt werden.“

Eine Scheindebatte also um schärfere Gesetze, nur weil Behörden ihre Arbeit nicht richtig machen.

Beispiel Berlin: Hier bringt die Polizei nach Straftaten aufgegriffene Kinder – wenn Erziehungsberechtigte nicht greifbar sind - in den Kindernotdienst. Doch der ist weder auf Dealer vorbereitet, noch auf Gewalttäter. Auch nicht auf Kinder, die Autos stehlen und kaputtfahren und damit sich und andere gefährden. Folge: Meist noch am selben Abend gehen die Aufgegriffenen einfach wieder. Und jeder hier weiß das schon vorher:

Beate Köhn, Kindernotdienst Berlin
„Die haben auch nicht die Vorstellung, hier zu bleiben. Und hier gibt’s keine Möglichkeiten die Jugendlichen dann festzuhalten.
KONTRASTE
„Warum nicht?“
Beate Köhn, Kindernotdienst Berlin
„Weil das ne Beratungsstelle ist, die ein Hilfsangebot macht, und nicht ne Strafmaßnahme. Gibt´s nicht die Möglichkeit, sie festzuhalten.“

Tatsächlich gibt es laut Gesetz die Möglichkeit. Das Jugendamt ist in diesen Fällen sogar verpflichtet, ein Kind sofort in Obhut zu nehmen. Das heißt: Der Staat muss für die Eltern einspringen und darf das Kind dann auch festhalten, um

Zitat
„.. eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes … oder eine Gefahr für Leib und Leben Dritter abzuwenden.“

So bei dealenden Kindern, die andere gefährden - und auch sich selbst. Denn sie bunkern verpackte Heroinkügelchen im Mund, und schlucken sie bei Polizeikontrollen herunter. Hier zwingt das Gesetz den Staat sogar zum Handeln, in Eilfällen zunächst auch ohne Gerichtsbeschluss.

Prof. Christian Bernzen, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
„Zu dieser Inobhutnahme gibt es eine Pflicht. Die öffentlichen Träger der Jugendhilfe sind dazu verpflichtet und die Inobhutnahme muss so gestaltet werden, dass die Gefahr effektiv beseitigt wird. Und zur effektiven Gefahrenbeseitigung gehört im Zweifelsfall auch, junge Menschen gegen ihren Willen festzuhalten.“

So ist bei einem 13-jährigen Dealer seit Monaten aktenkundig, dass er in einem Wohnheim nachts Heroinkügelchen ausgebrochen hat. Laut einem internen Polizeivermerk kann das Lebensgefahr bedeuten. Trotzdem lassen die Behörden den Jungen immer wieder laufen.

Prof. Christian Bernzen, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
„Natürlich ist es rechtswidrig und im Zweifel auch strafbar, wenn der junge Mensch in dieser Zeit zu Schaden kommt, in der die Pflicht der Inobhutnahme besteht.“

Untätige Behörden – die sich womöglich selber strafbar machen. Wir konfrontieren die Berliner Jugendverwaltung mit dem Fall und erfahren: Offenbar wurden hier wichtige Informationen einfach nicht weitergegeben.

KONTRASTE
„Warum bringt man so ein Kind in den Kindernotdienst, wenn doch alle wissen, die sind gar nicht dafür eingerichtet?“
Claudia Zinke, Staatssekretärin für Bildung, Jugend und Familie, Berlin
„Also ich kann diese Aktenlage, die Sie hier schildern, nicht bestätigen. Die ist mir so nicht bekannt. Ich kann Ihnen nur sagen: Hier ist alles getan worden, was in unseren derzeitigen Möglichkeiten steht, um hier ein schnelles Handeln möglich zu machen. Wir werden an der Stelle zu untersuchen haben in den nächsten Wochen, welche Verfahrensverbesserungen wir hier noch einleiten müssen.“

KONTRASTE
„Ist das Inkompetenz oder hat man hier Angst, Verantwortung zu übernehmen?“
Prof. Christian Bernzen, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
„Am meisten Mutlosigkeit und Phantasielosigkeit. Vielfältig hat sich öffentliche Verwaltung daran gewöhnt, in einer etwas trägen auch öffentlich entmutigten Weise diese Fälle als irgendwie nicht lösbar anzusehen.“

Behörden versagen. Doch statt hier aufzuräumen, fällt Regierenden nichts Besseres ein, als nach geschlossenen Heimen zu rufen und nach schärferen Gesetzen.

Dabei hatten schon vor Jahren Populisten ein regelrechtes Debakel angerichtet. CDU und Schillpartei richteten in Hamburg ein geschlossenes Heim ein. Doch statt Sicherheit gab´s nur Skandale: zahlreiche Rechtsbrüche, noch mehr Ausbrüche und zuletzt Millionenkosten. Die CDU selbst machte das Heim dann wieder dicht.

Dabei gibt es seit Jahren spezialisierte Einrichtungen, die es besser machen – und das auf Basis vorhandener Gesetze. So im Brandenburgischen Neuendorf, eine Autostunde von Berlin entfernt. Aus ganz Deutschland schicken Jugendämter ihre wohl schwierigsten Fälle hierher, darunter welche, die sonst kein Heim mehr nimmt.

Um 50 Kinder und Jugendliche kümmern sich rund 70 Mitarbeiter, Erzieher, Lehrer, Psychologen, Therapeuten, bisweilen auf Schritt und Tritt, notfalls rund um die Uhr. Weglaufen zweckslos. Wie Manndeckung beim Fußball – mit der für ein Kind laut Gesetz größtmöglichen Strenge:

Mario Bavar, Therapeutisches Kinder- und Jugendheim Haasenburg
„Wir machen ihm sehr deutlich, was bestimmte Verhaltensweisen für Konsequenzen haben und dass wir es eben nicht aushalten, dass man uns tritt und schlägt, sondern dass wir dann eben wie normal in jeder Familie auch davon abhalten werden. Natürlich begeben wir uns nicht in Ringkämpfe. Sondern das ist so, dass wir dann geschult den Jugendlichen oder das Kind festhalten. Und das weiß der junge Mensch. Das weiß er, dass er sich darauf verlassen kann, dass wir auch hier die Grenze setzen.“

Prof. Christian Bernzen, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
„Jedes ordentliche Gericht, was vernünftig arbeitet, wird auch ganz kurzfristig, innerhalb eines Tages, eine Freiheitsentziehung eines jungen Menschen dann genehmigen, wenn der Sorgeberechtigte sagen kann, warum sie notwendig ist.“

Bei den meisten Kindern hier sind die Erzieher per Gerichtsbeschluss befugt, ihnen die Freiheit zu entziehen. Doch das ist immer nur letztes erzieherisches Mittel. Denn statt um Strafe geht es darum, zu Straffreiheit zu erziehen. Durch Einsicht. Eine Psychologin spricht mit einem 13-jährigen, weil der immer wieder ausrastet:

Eine Art strenge Familie für Kinder, die bis dahin nie Halt hatten. In den Wohngruppen wird gemeinsam gegessen – aber immer erst, wenn alle am Tisch sind. Der täglich wechselnde Küchendienst kommandiert:

Prof. Christian Bernzen, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
„Zur Not muss 24 Stunden jemand da sein und auf diesen jungen Menschen aufpassen. Wichtig ist doch nur das Ergebnis, nämlich dass er nicht wegläuft und dass er sich nicht so doll über seine Situation ärgert, dass er gar nicht mehr erzogen werden kann. Diese beiden Punkte müssen gewährleistet sein.“

Und da sind die Politiker gefordert, und was tun die, wenn sie nicht so recht weiterwissen? Sie gründen erstmal eine Arbeitsgruppe. Das hat jedenfalls der Berliner Regierende Bürgermeister jetzt zu diesem Thema angekündigt.


Autoren: Norbert Sigmund und Jo Goll