Vor dem Europaparlamentsgebaeude wehen die Flaggen der europaeischen Mitgliedsstaaten und der EU. Bild: Eibner-Pressefoto/Ardan Fuessman
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EU-Parlament - Der Fall Le Pen nur die Spitze des Eisbergs?

Im EU-Parlament gelten für Mitarbeiter von Abgeordneten klare Regeln: Weil sie vom Parlament bezahlt werden, dürfen sie nicht etwa für die Partei oder private Belange ihrer Vorgesetzten arbeiten. Trotzdem passiert das. Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen zum Beispiel wurde in Paris wegen der Veruntreuung von Geldern schuldig gesprochen.
 
Beitrag von Anne Grandjean und Heiner Hoffmann

Sie soll in ihrer Zeit als EU-Abgeordnete Mitarbeiter für Aufgaben eingesetzt haben, die nicht deren Funktion entsprachen. Kontraste-Recherchen zeigen nun, es gibt bislang unbekannte Fälle, die Fragen aufwerfen. Es stehen mutmaßliche Verstöße auf Kosten der Steuerzahler in Millionenhöhe im Raum. Dabei steht auch der Mitarbeiter einer Abgeordneten der AfD-Fraktion im EU-Parlament im Fokus.

Anmoderation: Ihr Fall sorgte für Schlagzeilen. Ein Gericht sprach die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen schuldig, wegen der Veruntreuung von Geldern. Sie soll in ihrer Zeit als EU-Abgeordnete ihre Mitarbeitenden unrechtmäßig für ganz andere Aufgaben eingesetzt haben. Im EU-Parlament gelten für Parlamentsassistenten klare Regeln: Weil sie vom Parlament bezahlt werden, dürfen sie nicht für die Partei oder private Belange ihrer Abgeordneten arbeiten.

Diese Europaabgeordnete möchte offenbar nicht so gerne mit uns reden:

Kontraste

"Frau Anderson? ARD Kontraste. Es gab ja Ermittlungen des Parlaments wegen der Fehlzeiten Ihrer Mitarbeiter…"

Christine Anderson, Mitglied des Europäischen Parlaments, AfD

"Ja, dazu äußere ich mich jetzt nicht. Und dass sie mich hier so überfallen ist eine Unverschämtheit. Sie wissen, ich bin in dieser Sache inzwischen anwaltlich vertreten und dass sie hier jetzt einfach so auftauchen, ist interessant."

Das Thema Mitarbeiter-Präsenz kommt bei so manchen nicht gut an im Europaparlament.

Das liegt auch an ihr: Marine Le Pen, frühere Europaabgeordnete des rechtsextremen Rassemblement National. In Frankreich verurteilt wegen Veruntreuung von EU-Mitteln zu vier Jahren Haft auf Bewährung, elektronischer Fußfessel, und 100.000 Euro Geldstrafe. Für fünf Jahre darf sie keine politischen Ämter mehr bekleiden. Das Urteil ist zwar noch nicht rechtskräftig, doch die Präsidentschaftswahl scheint passé.

Ihr Vergehen: Als Abgeordnete im Europäischen Parlament bekamen sie und ihre Kollegen ein Budget für Mitarbeiter, für Parlamentsarbeit in Brüssel. Doch mit der EU hatten ihre Assistenten offenbar wenig zu tun. Einer aus ihrem Team schrieb per E-Mail:

Assistent von Marine Le Pen

"Ich würde auch gerne mal das Europäische Parlament kennenlernen."

Er hatte offenbar noch nie einen Fuß hineingesetzt, dabei war Brüssel sein offizieller Arbeitsplatz. Doch Le Pen und ihre Parteikollegen hatten das Personal in Paris arbeiten lassen, als Parteimitarbeiter.

Nicholas Aiossa ist bei der Organisation Transparency International für Europapolitik zuständig, hat das Gebaren der Abgeordneten schon länger im Blick. Für ihn ist Le Pen nur die Spitze des Eisbergs.

Nicholas Aiossa, Transparency International

"MEPs are still able to misuse EU funds at a very large rate on a broad scope without the proper accountability mechanisms in place to prevent this. The numbers are certainly very high. There are dozens and dozens, hundreds even of these cases."

"EU-Abgeordnete können weiterhin in großem Stil und in unterschiedlichsten Bereichen EU-Gelder missbräuchlich verwenden – ohne dass wirksame Kontrollmechanismen greifen. Die Zahlen sind alarmierend hoch: Es gibt Dutzende, wenn nicht Hunderte solcher Fälle."

Tatsächlich wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Abgeordnete und Mitarbeiter beim Schummeln und Betrügen erwischt, quer durchs Parteienspektrum.

Die griechische Ex-Vizepräsidentin des Parlaments zum Beispiel: Eva Kaili. Die Sozialdemokratin soll Mitarbeiter scheinbeschäftigt und das Gehalt teils selbst eingestrichen haben.

Kontraste liegt eine Zahl der Parlamentsverwaltung vor. Allein im Jahr 2023 wurde in sechs Fällen rund um Mitarbeiter-Gelder ermittelt, insgesamt gehe man einem möglichen Schaden von fast 2,9 Millionen Euro nach.

Einer dieser Fälle war Jens Mierdel, früherer Mitarbeiter der AfD-Europaabgeordneten Christine Anderson. Das Parlament ermittelte gegen ihn, weil er sehr oft fehlte, sich stattdessen in der deutschen Heimat für die AfD politisch engagierte. Mierdel behauptet: das sei mit seiner Chefin alles so abgesprochen gewesen.

Jens Mierdel, Ehemaliger Mitarbeiter Christine Anderson

"Es gab da eine Abmachung unter der Hand, dass ich zwar in Brüssel entsprechend bei ihr angestellt sein, aber dass ich dann auch meinen kommunalpolitischen Verpflichtungen nachgehen kann. Sie hat mir da entsprechend Freiräume eingeräumt und das über anderthalb Jahre hinweg problemlos."

Christine Anderson lässt über einen Anwalt mitteilen, es habe keine pauschalen Vereinbarungen mit Jens Mierdel über Fehlzeiten für sein Engagement in der Heimat gegeben. Sie habe sie sich gerade wegen seiner unerlaubten Abwesenheiten von ihm getrennt, leider habe sie diese nicht früher erkannt.

Anwaltschreiben

"Zunächst ist unserer Mandantin Herrn Mierdels Abwesenheit tatsächlich nicht aufgefallen, nämlich weil sie als Abgeordnete oft unterwegs war."

Jens Mierdel hatte viele Funktionen: Vorsitzender der AfD-Kreistagsfraktion in Fulda. Engagiert im Gemeinderat. Chef der Jungen Alternative Hessen. Und gleichzeitig Vollzeit-Mitarbeiter in Brüssel. Lange ging diese Kombination gut, doch dann überwarf sich die AfD mit ihm. Kurz darauf wollte ihn auch seine Chefin in Brüssel loswerden. Und machte ihm hohe Fehlzeiten zum Vorwurf, meldete einige Fehltage beim Parlament. Dort schaute man sich den Fall genauer an. Kontraste liegen die Ermittlungs-Unterlagen vor. Mehr als 127 unerlaubte Fehlstunden hatte Mierdel allein 2021 angehäuft – wegen "politischer Aktivitäten" in der Heimat. Und das waren nur die Stunden, die sich nachweisen ließen. Am Ende bewertet die EU-Verwaltung einen Punkt zu Mierdels Gunsten: Die Chefin konnte über seine Abwesenheit nicht unwissend gewesen sein.

Das war seine Chefin: Die AfD-Europaabgeordnete Christine Anderson, unter Querdenkern weltweit bekannt, dank ihrer schrillen Kritik an den Corona-Maßnahmen.

Auch in Brüssel ist sie eine einflussreiche Frau, Parlamentarische Geschäftsführerin der Rechtsaußenfraktion ESN. Dabei lässt sie an der EU kein gutes Haar.

Christine Anderson

"Frau von der Leyen, Sie alleine wären ja schon schlimm genug, aber die angehenden Kommissare, die sie um sich versammelt haben, sind die reinste Trümmertruppe."

Christine Anderson

"Das ist eigentlich gar kein Parlament, das ist mehr so ein, ja, Irrenhaus."

Lied Christine Anderson "I wish you a merry Brexit, may you finally be free."

Die Gelder aus Brüssel nimmt sie trotzdem mit, unterhält ein Büro mit vier Mitarbeitern, dafür stehen ihr fast 31.000 Euro pro Monat zur Verfügung. Diese Mitarbeiter sind Beamte auf Zeit, sie werden aus Steuergeldern bezahlt und müssen sich an zahlreiche Vorgaben halten. Sie müssen prinzipiell präsent sein, an einem der Parlamentssitze wohnen, dürfen während der Arbeitszeiten nur EU-Angelegenheiten bearbeiten – also anders als Herr Mierdel.

Er war lange Brüsseler Büroleiter von Christine Anderson: Pierre Lamely. Auch er sehr umtriebig in gleich mehreren Kommunalparlamenten und als stellvertretender Landessprecher der AfD Hessen. Seit kurzem sitzt er sogar im Bundestag. 2021 hatte er es schon einmal versucht, damals erfolglos. Der offizielle Wahlkampfauftakt: Am 26. Juni. Unverzüglich hätte er die Parlamentsverwaltung über den Beginn der Kampagne informieren müssen. Denn bei nationalen Wahlen gilt in aller Regel:

Sprecherin

"Für die Dauer der erklärten offiziellen Wahlkampagne müssen die Assistenten Jahresurlaub oder unbezahlten Urlaub nehmen."

Interne Unterlagen zeigen: Erst zwei Monate nach dem Wahlkampfauftakt gab Lamely beim Parlament an, dass seine Kampagne nun starte. Später teilte er der Verwaltung mit, dass sein Wahlkampf außerdem Anfang September wegen Krankheit geruht habe – so wollte er unbezahlten Urlaub vermeiden. In dieser vermeintlichen Ruhezeit fand allerdings ein Wahlkampfstand statt, für ihn als Kandidaten. Über einen Anwalt lässt Lamely zunächst mitteilen, er sei an diesem Stand nicht zugegen gewesen. Seltsam: am selben Tag werden Fotos und Videos gepostet, von einem Wahlkampfstand am selben Ort, mit ihm am Grill:

Pierre Lamely, Bundestagsabgeordneter, AfD

"Wir sind heute am Grabenhöfchen. Bei uns gibt’s Bratwurst, ganz ohne Impfung. Dafür aber bei uns die Stärkung der Abwehrkräfte, gegen eine übergriffige Regierung."

Auf konkrete Nachfrage hierzu schreibt der Anwalt:

Anwaltschreiben

"Dass unser Mandant den Sachverhalt nicht mehr sicher in Erinnerung haben kann, ist verständlich und menschlich."

Später stellte das EU-Parlament jedenfalls fest, dass Lamely unbezahlten Urlaub hätte nehmen müssen – doch da war die Wahl längst vorbei. Ob er ihn nachträglich genommen oder Geld ans Parlament zurückgezahlt hat – dazu lägen ihm leider keine Unterlagen mehr vor, teilt sein Anwalt mit.

Sein früherer Kollege Jens Mierdel jedenfalls kam glimpflich davon, wurde am Ende von der Parlamentsverwaltung nur schriftlich ermahnt. Doch nun will sich der Vorsitzende des zuständigen Haushaltskontrollausschusses der Sache annehmen.

Niclas Herbst, Vorsitzender Haushaltskontrollausschuss Europaparlament, CDU

"Die Verwaltung muss dort reinschauen: Was ist tatsächlich passiert? Muss uns das auch vorlegen, als Ausschuss. Wir haben umfangreiche ganz klare Finanzregeln. An die hat sich jeder zu halten. Und wenn es dort zu Verstößen kommt, dann wollen wir auch das Geld zurück. Und da können wir auch hartnäckig sein."

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