Junger Türke in Berlin (Quelle: rbb)

- Immer mehr junge Straftäter: Gehören kriminelle Kinder in den Knast?

Die Zahl kindlicher Straftäter steigt. Kinder unter 14 Jahren aber bleiben in Deutschland straffrei. Viele wissen das und klauen, rauben und verletzen ungeniert. Soll die Strafmündigkeit von Kindern mit 12 Jahren beginnen? Dafür gibt es gute Gründe.

Und willkommmen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, bei Kontraste.

Es ist kaum zu glauben:
Er musste auf einen Stuhl steigen, um treffen zu können: Er war sieben und hatte einen Hammer und knöpfte der 80jährigen Nachbarin die Rente ab. Geschehen vor 20 Jahren und niemand konnte es glauben, er war doch so ein nettes Kind. Gangster mit Teddybären. Es gab sie schon immer, kids die schneller um sich schlagen als die Nachbarkinder, die jähzorniger sind als ihre Geschwister. Nur sind die kleinen Ganoven heute besser ausgerüstet. Die Werbung gibt vor was angesagt ist, und wenn die Eltern sich das nicht leisten können, wird es angeschafft. Mit Klappmessern, Baseballschlägern, Knarren. "Abziehen" nennen sie es.

Den Szenenamen haben die Erwachsenen ja schon begriffen, doch es fehlt die pädagogische Idee, wie man den lieben Kleinen wieder Manieren beibringen kann. Unter 14 kann ein Kind unbehelligt durchs Leben schlägern, räubern, ballern. Unter 14 ist ein Kind nicht strafmündig. Anja Dehne und Caroline Walter mit der Geschichte einer fatalen Beziehung: Die Kleinen, mit der kriminellen Energie und die Großen mit der liebgemeinten Hilflosigkeit.


Fatih ist dreizehn, ein Junge aus Berlin. Mit elf beginnt seine kriminelle Karriere. Er wird erwischt, als er eine geklaute Jacke verkauft. Dann begeht er schweren Raub mit gefährlicher Körperverletzung. Immer wieder überfällt er Kinder, bedroht sie mit Waffen.

Fatih:
"Ich laufe herum und sehe ein paar Jungen, das sind für mich Opfer. Ich hab zur Zeit kein Geld und gehe zu denen hin, nehme alles was sie in der Tasche haben, alles raus. Und dann schlage ich sie, daß sie auf den Boden gehen und dann gehe ich weiter. Das ist Abziehen."

Mitte August: Wieder eine Straftat. Fatih und seine Freunde brechen in mehrere Wohnungen ein. Der Schaden: 150 000 Mark. Fatih wird gefaßt, doch eine Strafe bekommt er nicht.

Fatih:
"Das Gesetz ist so, ich kann jetzt alles machen, wenn ich dreizehn bin. Man muß gut im Kopf sein, man muß ein gutes Gehirn haben, wenn man dreizehn ist und man kann alles machen, es passiert einem nichts. Ich kann jetzt eine Bank überfallen und da passiert mir gar nichts."

Kriminalhauptkommissar Rüdiger Mardus kennt den dreizehnjährigen. Er hat ihn schon öfter vernommen, aber Fatih hat keinen Respekt vor ihm. Denn der Junge weiß, es passiert ihm nichts.

Rüdiger Mardus, Kriminalhauptkommissar:
"Das ist häufig so, daß die ganz genau wissen, welche Möglichkeiten die Polizei hat. Die Polizei hat gegenüber Kindern, also unter 14jährigen, eigentlich gar keine Möglichkeiten strafrechtlich die zu belangen, nicht nur die Polizei, sondern die ganze Justiz. Und das hat sich in den einschlägigen Kreisen herumgesprochen und dementsprechend wissen die das und wissen das auch auszunutzen."

Alle Verfahren gegen Fatih wurden eingestellt, denn mit dreizehn ist er strafunmündig. Die Polizei muß ihn immer wieder laufen lassen. Vor einen Richter kommt er nicht.

In Paragraph 19 des Strafgesetzbuches heißt es:

"Schuldunfähig ist, wer bei der Begegehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist." Ronald Schill ist Richter am Amtsgericht Hamburg. Daß Kinder unter 14 nach dem Gesetz nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden, hält er für fatal.

Ronald Schill, Richter:
"Es gibt 14.000 strafunmündige Kinder jedes Jahr, die Körperverletzungsstraftaten begehen. Bei Körperverletzungsstraftaten werden Opfer leicht oder schwer verletzt, darunter viele Kinder. Ein Staat, der vor dieser hohen Zahl von Opfern seine Hände in den Schoß legt und das Problem ignoriert, verhöhnt die Opfer."

Nicht nur Körperverletzungen nehmen zu, allein 1998 begehen Kinder rund 4000 Raubdelikte. Das belegt die aktuelle Kriminalstatistik der Polizei. In den letzten fünf Jahren haben sich die Straftaten der unter 14-jährigen fast verdoppelt.

Rüdiger Mardus, Kriminalhauptkommissar:
"Nach meiner Kriminalerfahrung kann ich sagen, daß in den letzten Jahren der Trend schon dahin geht, daß mehr Gewalt eingesetzt wird, insbesondere Waffen mehr eingesetzt werden. Da die Hemmschwelle also sinkt, mit diesen Waffen nicht nur zu drohen, sondern mit diesen Waffen auch wirklich was zu machen, das heißt mit dem Messer zuzustechen oder die Gaswaffe abzudrücken. Und dieser Trend ist auch bei immer Jüngeren erkennbar."

Fallschirm: Ein Projekt für kriminelle Kinder in Berlin. 4 Sozialarbeiter betreuen achtzehn Serientäter. Hilfe auf freiwilliger Basis, nicht in allen Fällen erfolgreich. Von einer dramatischen Entwicklung der Kinderkriminalität wollen die Pädagogen allerdings nicht reden.

Andreas Hemme, Sozialpädagoge:
"Ich will es auch nicht wahrhaben, weil es bisher einfach gar nicht nachgewiesen ist. Wir sehen diese Kinder, wir haben tagtäglich mit sehr großen Problemen zu tun, aber wir sträuben uns zu glauben, daß die Anzahl dieser Intensivtäter so dramatisch gestiegen ist wie das immer wieder behauptet wird."

Ronald Schill:
"Das Problem kriminelle Kinder wird ignoriert, es wird verniedlicht, es wird verharmlost und tabuisiert. Ich wehre mich gegen diese Art von Political Correctness dann, wenn Opfer dabei ignoriert werden und auf der Strecke bleiben."

Weil unter 14-Jährige straffrei ausgehen, kann Fatih weiterhin auf Raubzüge gehen. Die Eltern schaffen es nicht, den Jungen zu kontrollieren. Das Jugendamt hat mit ihnen Gespräche geführt, aber die Familie hat Hilfe abgelehnt. Das Amt kann Fatihs kriminelle Karriere nicht stoppen.

Gudrun Raßbach, Jugendamt Kreuzberg:
"Stellen wir fest, da gibt es erheblichen Widerstand und dieser junge Mensch sagt, was habt ihr mir zu bieten, das interessiert mich nicht, und da geh ich auf keinen Fall hin, und ihr könnt machen, was ihr wollt, ja, da geh ich nicht hin, dann haben wir erst mal schlechte Karten."

Auch im Fall des damals 13jährigen Dennis aus Hamburg konnte das Jugendamt nichts ausrichten. Er hatte mehr als 100 Autos geklaut, bei einer Spritztour fährt er seinen 15jährigen Beifahrer in den Tod. Eine Strafe bekommt er nicht, stattdessen wird der Junge auf erlebnispädagogische Reise nach Skandinavien geschickt. Ergebnislos. Denn auch in Skandinavien klaut er wieder Autos, wird nach Hause geschickt, inzwischen sind seine Betreuer völlig hilflos.

Ronald Schill:
"Wenn dieser Jugendliche als Kind nicht durch den Verzicht auf eine Sanktion, zu weiteren Straftaten überhaupt erst ermuntert worden wäre, dann wäre es zu dieser hohen Anzahl von Straftaten gar nicht gekommen."

Auch der 13jährige Christopher aus Darmstadt konnte 230 Straftaten begehen, ohne Konsequenzen. Die Eltern überfordert, das Sorgerecht entzogen. Christopher ist weiter kriminell. Einbruch, räuberische Erpressung und wildes Herumballern mit einer Waffe. Statt auf Zwang, wird immer noch auf pädagogische Experimente gesetzt.

Andreas Hemme:
"Ich denke, man könnte viel besser mit einem Bonussystem arbeiten, quasi den umgekehrten Weg machen, indem man ein Kind, was man betreut mit dem man ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, einfach sagt, paß mal auf, wir beide machen mal einen Vertrag, und du hälst dich daran, daß du die nächsten vier Wochen keine Straftaten begehst und wir können mit dir einfach mal was Schönes machen, was wir vorher auch vertraglich festlegen."

Die Serientäter Dennis und Christopher kamen erst mit 14 vor den Richter.

Auch im Fall von David M. aus Emden müssen Polizei und Justiz abwarten, bis er strafmündig ist. David ist 13. Vor zwei Wochen klaut er einen LKW, rast in ein Haus - das stürzt komplett zusammen. Das Jugendamt hat alles versucht: Einzelbetreuung, Gruppentherapie, Heimunterbringung - jetzt sind die Mitarbeiter am Ende. Aus dem Heim haut der Junge immer wieder ab. In eine geschlossene Einrichtung kann er nicht, denn die sind, wie in den meisten Bundesländern, auch in Niedersachsen abgeschafft.

Dr. Eimo Heeren, Fachbereich Jugend/Soziales:
"In diesen Fällen bleibt meiner Ansicht nach nichts anderes, als daß man diesen Kindern die Möglichkeit gibt, in einem geschlossenen Heim rund um die Uhr so betreut zu werden, daß sie soziale Verhaltensweisen wieder lernen. Die Ursache dafür, daß wir in Deutschland die geschlossenen Heime nahzu vollständig abgeschafft haben - es gibt noch wenige, acht insgesamt, meines Wissens, - liegt in der 68er Gerneration, in den wirklich lobenswerten Gedanken seinerzeit - die aber durch die Entwicklung überholt worden sind. Mir scheint, daß maßgebliche Leute auf diesem Gebiet die Realität noch nicht einsehen wollen."

David M. ist seit seinem siebten Lebensjahr bei der Polizei bekannt. Inzwischen hat er über hundert Straftaten begangen. Von Raub über Erpressung bis hin zu einer versuchten Vergewaltigung. Polizei und Justiz sind machtlos.

Ronald Schill:
"Notwendig ist, die Strafmündigkeitsgrenze auf 12 herabzusetzen, um sich diesen geänderten Umständen in der Gesellschaft anzupassen. Ich ärgere mich darüber, daß die Leute auf Sanktionen verzichten wollen, weil sie Kinder lieben. Ich liebe Kinder auch, aber ich denke insbesondere an die Opfer unter den Kindern als an die Täter. Und deswegen meine ich, daß man um eine effektive Bekämpfung der Kinder- und Jugendkriminalität nicht herumkommt."

Daß kriminelle Kinder nicht belangt werden können, wurde im Gesetz bereits 1923 festgelegt.

Rüdiger Mardus:
"Die Jugendlichen heutzutage machen Erfahrungen, die die anderen, älteren Generationen, erst sehr viel später gemacht haben. Und durch diese Erfahrungen werden sie sehr viel früher reifer und sind auch viel früher in der Lage ihr Handeln selbst zu beurteilen im gesellschaftlichen Kontext. Und von daher denke ich, daß die 14-Grenze, 14-Jahre Grenze, einfach nicht mehr zeitgemäß ist und wenigstens in Einzelfällen nach unten korrigiert werden müßte."

Dann könnten Richter entscheiden, ob Fatih eine Strafe bekommt. Das hieße nicht immer gleich Knast. Das Jugendstrafrecht sieht auch Arbeitsstunden vor. Kinder wie Fatih suchen Grenzen.

Fatih:
"Wenn es so wie in der Türkei hier wäre, dann wird man nicht so kriminell. Dann hätte man Angst. Mit 12 geht man in den Knast rein, bleibt man für ein Jahr. Da wäre man nicht so, da wäre ich nicht so."

Bis heute wagt es aber niemand den Paragraphen zu ändern. Opfer werden in Kauf genommen. Fatih ist dreizehn, in seiner kriminellen Karriere steht er erst am Anfang. Und keiner kann ihn aufhalten.


Der Schutz des Kindes, die Idee ist richtig, aber irgendwas ist wohl verwechselt worden, wenn wir die Kinder nicht mehr vor sich selbst schützen dürfen.