Luftaufnahme der schwedischen Küstenwache zeigt Leck in der Nord-Stream-Pipeline (Bild: Swedish Coast Guard / picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Swedish Coast Guard / picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Luftaufnahme der schwedischen Küstenwache zeigt Leck in der Nord-Stream-Pipeline | Bild: Swedish Coast Guard / picture alliance / ASSOCIATED PRESS

- Nord-Stream-Anschlag: Wie deutsche Ermittler dem Hauptverdächtigen auf die Spur kamen

Identifiziert durch Blitzer-Foto? Ein Ukrainer, der zuletzt in Polen gelebt hat, wird nach Recherchen von ARD, SZ und Die Zeit per europäischem Haftbefehl gesucht. Knapp zwei Jahre nach dem Nord-Stream-Anschlag geraten auch zwei mutmaßliche Mittäter unter Verdacht. Was ist über die Verdächtigen bekannt und wie kamen die Ermittler ihnen auf die Spur?
 
Autoren: Pune Djalilevand, Georg Heil, Lisa Wandt

Anmoderation: Hallo und Guten Abend hier meldet sich Kontraste. Heute mit einem Blick auf die Landtagswahl in Thüringen, die eine echte Schicksalswahl zu werden verspricht. Aber zuerst kommen wir zu ihm - dem größten Sabotageakt der jüngeren Geschichte: Seit fast zwei Jahren recherchieren wir, wer die Nordstream Pipelines in die Luft gesprengt hat. Jetzt können wir ihnen zeigen, wer dahinter steckt. Dieser Mann wird gerade mit einem europäischen Haftbefehl gesucht. Wie die Ermittler ihm auf die Spur kamen und wie der explosive Plan überhaupt ausgeheckt wurde - nach neusten Berichten darf das Wort Schnapsidee hier wörtlich verstanden werden - das sehen sie jetzt.

Wolodymyr Z., 44, Ukrainer und Profi-Taucher. Wie wir gestern zusammen mit Kollegen von ARD, Süddeutscher Zeitung und Zeit berichtet haben, gilt er als Hauptverdächtiger des Nordstream-Anschlags. Z. wird per Haftbefehl gesucht - ist er untergetaucht?

Seit den Anschlägen hat unser Team zu dem Fall recherchiert. Nun ist klar: Der Generalbundesanwalt hält Wolodymyr Z. für dringend tatverdächtig. Gestern Vormittag. Wir sind auf dem Weg zu seiner letzten Wohnadresse. Ein ruhiger Vorort von Warschau. Wir können mit seinen Nachbarn sprechen. Unauffällig und kontaktscheu sei er gewesen.

Nachbarin

"Wissen Sie, er war ein gutaussehender Mann, ein Mann in der Blüte seines Lebens, so jung wie sie. Mehr kann ich nicht über ihn sagen. Was für ein Skandal, das gibt es ja gar nicht."

Vor dem Haus: ein Auto mit ukrainischem Kennzeichen. Doch er ist nicht da. Anfang Juli soll er in die Ukraine ausgereist sein. Wie konnte es dazu kommen?

Die Sprengung der Nordstream-Pipelines: ein internationaler Polit-Thriller. Seit knapp zwei Jahren ermittelt der Generalbundesanwalt wegen des Verdachts der "verfassungsfeindlichen Sabotage". Kaum etwas dringt an die Oberfläche. Auch deshalb wird weltweit wild spekuliert, wer hinter dem Anschlag stecken könnte.

Im Netz verbreiteten sich schnell Theorien, die USA oder Russland hätten den Anschlag verübt. Die deutschen Ermittler aber gehen von diesem Szenario aus:

September 2022: Vom Rostocker Hafen Hohe Düne stößt eine angemietete Segeljacht, die Andromeda, in See. Später soll das Boot in Wiek auf Rügen Station gemacht haben. Am 8. September gerät dort ein weißer Citröen in eine Radarfalle. Auf dem Blitzerfoto identifizieren deutsche Ermittler als Beifahrer: Wolodymyr Z.

Florian Flade, Reporter WDR-Investigativ

"Wir haben recherchiert, dass mehrere Hinweise wohl letztendlich dafür gesorgt haben, dass nun ein Haftbefehl erwirkt werden konnte. Unter anderem soll dabei auch ein Blitzerfoto eine Rolle gespielt haben. Die Ermittler gehen davon aus, dass mit diesem Fahrzeug Personen und auch Material zum Segelschiff Andromeda transportiert werden sollte oder transportiert worden ist."

Auch ein westlicher Geheimdienst hatte Deutschland einen Hinweis auf Z. gegeben.
Die Attentäter sollen bis auf den Meeresgrund der Ostsee – in rund 80 Metern Tiefe getaucht sein – und dort Sprengsätze an den Gasleitungen angebracht haben. Wäre Wolodymyr Z. dazu in der Lage?

Wir finden heraus: Z. ist verheiratet und diente in der ukrainischen Armee. Er war an einer Tauchschule in Kiyiv als Tauchlehrer tätig und besitzt diverse Spezialausbildungen. Hier sein Zertifikat aus 2019 zum "Servicetechniker" für Tauchausrüstungen.

Die Ermittler haben zwei weitere Personen im Visier: Das Ehepaar Svitlana und Evghen U. Sie stehen momentan jedoch nur unter Verdacht und werden in dem Verfahren NICHT als Beschuldigte geführt. Interessant: Laut Homepage handelt es sich bei dem Ehepaar U. um die Betreiber eben jener Tauchschule, an der Wolodymyr Z. Lehrer war.

Videos der Tauchschule zeigen Trips im Ausland. Evghen U. hat eine Spezialausbildung zum TEC Deep Diver, notwendig für technisches Tauchen jenseits von 40 Metern Tiefe. Er verfügt also über die Fähigkeiten, um bis hinab auf den Meeresgrund der Ostsee zu tauchen.

Seine Ehefrau Svitlana präsentiert sich auf Social-Media als ukrainische Patriotin. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine veröffentlichte die Tauchschule einen entsprechenden Post auf Facebook:

"Wir (…) tun alles Mögliche und Unmögliche für unseren Sieg. Wir kämpfen gegen den Feind."

Als wir Svitlana U. telefonisch mit den Vorwürfen konfrontieren, streitet sie jegliche Tatbeteiligung ab. Während des Anschlags sei sie in Bulgarien gewesen. Und Wolodymyr Z. kenne sie nicht. Kurz darauf erklärt sie gegenüber ntv und RTL jedoch, Z. sei der Patenonkel ihres Kindes. Zur Tatzeit, so sagt sie nun, sei sie in der Ukraine gewesen.

Auch Wolodymyr Z. bestreitet jegliche Tatbeteiligung vehement. Als wir ihn auf Svitlana U. ansprechen, bricht das Gespräch ab.

Szene frei

"Hallo?"

Bis zu einer Verurteilung gilt für alle drei die Unschuldsvermutung. Doch: Warum konnte Z. trotz europäischem Haftbefehl nicht festgenommen werden? Im Juni hatte die Bundesregierung jenen Haftbefehl an Polen übermittelt. Doch dort reagierte man offenbar zunächst nicht.

Michael Götschenberg, ARD-Terrorismusexperte

"Die polnische Seite sagt nun, dass der Mann Anfang Juli ausgereist sei. Am Ende bleibt eine spannende Frage: Welche Rolle spielt Polen in diesem ganzen Komplex? Denn es gab von Anfang an den Eindruck, dass die Polen zwar mit den Deutschen kooperien, aber nicht alles teilen. Die Ausreise unmittelbar nach der Übermittlung des Haftbefehls wirft weitere Fragen auf."

In Polen hingegen sieht man Fehler auf deutscher Seite. Die deutschen Behörden hätten Z. nicht ins Schengen-Informationssystem, eine Datenbank für Grenzkontrollen, eingetragen. So habe er unbehelligt ausreisen können.

Piotr Skiba, Bezirksstaatsanwaltschaft Warschau

"Die Zusammenarbeit verlief immer sehr gut. Ich weiß nicht, ob es einfach ein menschlicher Fehler war, oder ob die Bürokratie daran Schuld war - oder ob einfach das Glück fehlte. Es ist schwer, die direkten Ursachen aufzuzeigen."

Der Hauptverdächtige des Nordstream-Anschlags bleibt auf freiem Fuß. Ermittler halten es nach unseren Informationen für möglich, dass er gewarnt worden ist.

Holger Stark, stellv. Chefredakteur "Die Zeit"

"In Polen gelten die Nord-Stream-Attentäter als Volkshelden. Mehr als einmal hat die polnische Regierung unter der Hand signalisiert, dass sie mit diesem Anschlag keine großen Probleme hat, dass sie den Röhren nicht nachtrauert. Also für jede polnische Regierung wäre eine Festnahme und eine Auslieferung von einem Ukrainer, der als Verdächtiger gilt, diese Röhren gesprengt zu haben, immer auch ein Politikum."

Gestern dann kam das Wall Street Journal mit einer brisanten Enthüllung: Die Idee zum Sabotage-Akt entstand wohl in der Ukraine. Der Ursprung soll ein Trinkgelage im Mai 2022 gewesen sein. Ukrainische Geschäftsleute und Militärs sollen gefeiert haben, dass der Vormarsch der Russen auf Kiyiv gestoppt wurde. So habe es die US-Zeitung von Menschen erfahren, die in den Anschlag verwickelt waren. Sie beruft sich auch auf vier hochrangige Mitarbeiter aus dem ukrainischen Sicherheitsapparat.

Der Anschlag sollte laut Plan von den ukrainischen Geschäftsleuten finanziert und von einem General beaufsichtigt werden. Kosten: 300.000 Dollar. Präsident Selenskiy habe diesem Plan laut Wall Street Journal wenige Tage später zugestimmt. Auch Armeechef Zaluschnij sei eingeweiht gewesen.

Doch der niederländische Militärgeheimdienst erfährt von den Plänen und warnt Deutschland und die USA. Daraufhin drängt die CIA die Ukraine dazu, das Vorhaben abzublasen. Über die Warnung hatten wir bereits berichtet.

Laut Wall Street Journal habe Selenskiy nun befohlen, den Plan zu stoppen – doch der zuständige General soll das missachtet und den Plan durchgezogen haben. Auf Anfrage der US-Zeitung hat Ex-Armeechef Zaluschnij diese Version vehement dementiert - er habe davon keine Kenntnis.

Bis heute bestreiten alle Offiziellen in der Ukraine eine Tatbeteiligung ihres Landes.

weitere Themen der Sendung

Fotomontage: Thüringen-Fahne mit Wahlkreuz (Bild: IMAGO / Christian Ohde)
IMAGO / Christian Ohde

Schicksalswahl in Thüringen – Wer kann das Land regieren?

In Thüringen sind die Parteien zu großen Experimenten bereit: Um eine Regierungsbeteiligung von Höckes rechtsextremer Thüringen-AfD abzuwenden, könnten CDU und BSW hier koalieren. Um Ministerpräsident zu werden, würde CDU-Mann Mario Voigt also auch mit einer Partei zusammengehen, die eine Koalition an die Absage von US-Raketenstationierungen in Deutschland knüpft. Kommt die Westbindung der CDU ins Wanken? Was ist das BSW für eine Partei, die aus dem Stand in aktuellen Umfragen 19% holt, aber auch in Thüringen noch auf der Suche ist nach den eigenen Positionen und Personal. Und welche Rolle wird in Zukunft der amtierende Ministerpräsident Ramelow spielen? Eine Wahlkampfreportage.

Autoren: Mitja Blümke, Pune Djalilevand, Daniel Donath, Silvio Duwe, Anne Grandjean, Chris Humbs, Markus Pohl