Der Fall Norhan A. -
Die 36-jährige Norhan A. wurde in Berlin von ihrem Ex-Mann Yasser B. erstochen – eine „öffentliche Hinrichtung“ nannte der Richter den Mord. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, es wurde Revision eingelegt. Jahrelang hatte Yasser B. ihr zuvor nachgestellt und gedroht sie zu töten. Jahrelang hatte Norhan A. versucht, sich und ihre vier Kinder in Sicherheit zu bringen.
Beitrag von Anne Grandjean und Daniel Schmidthäussler
Sie zeigte ihn immer wieder an, erwirkte ein Annäherungsverbot und zog am Ende in eine sogenannte Schutzwohnung. Ihre Angehörigen machen den Berliner Behörden nun schwere Vorwürfe: Wie konnte Yasser B. die Adresse der Schutzwohnung rausfinden? Warum bekam Norhan A. nicht den Schutz, um den sie so dringend gebeten hatte? Könnte sie womöglich noch leben, wäre sie besser geschützt worden? Recherchen von Kontraste und Zeit Online zeigen nun: Bei ihrem Fall lief offenbar einiges schief. Vor allem die Ablehnung eines Antrags zur Aufnahme in ein besonderes Programm für hochgefährdete Frauen wirft Fragen auf: In diesem Programm des Berliner Senats ist die Zahl der unterstützten Frauen innerhalb eines Jahres drastisch gesungen - von 71 auf 44 Personen. Norhan A. ist offenbar kein Einzelfall.
Anmoderation: Das ist Norhan A. Die vierfache Mutter wurde von ihrem Ex-Mann erstochen, nachdem er ihr zuvor über Jahre nachstellte und sie auch mit dem Tod bedrohte - ein klassischer Femizid, so scheint es. Die Behörden nahmen die Gefahr, in der die 36-jährige Berlinerin schwebte, zunächst sehr ernst. Doch dann änderte sich die Einschätzung offenbar - und jetzt stehen zwei Fragen im Raum: Könnte Norhan A. noch leben, wenn die Polizei das Risiko für sie anders bewertet hätte? Und: Warum werden immer weniger Frauen in der Hauptstadt in ein eigentlich erfolgreiches Schutzprogramm für besonders gefährdete Frauen aufgenommen? Dazu haben wir gemeinsam mit Kolleginnen von "Zeit online" recherchiert.
Ende Februar fällt in Berlin ein eindeutiges Urteil: Mord, besondere Schwere der Schuld, lebenslang – für ihn. Der Richter vergleicht die Tat mit einer "öffentlichen Hinrichtung". Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Das Opfer: Norhan A.
Der Täter: ihr Ex-Mann, Yasser B.. Der 50-Jährige hat die Mutter seiner vier Kinder erstochen. Die Tat hat er gestanden, sein Anwalt hatte ursprünglich auf Totschlag plädiert. Er hat nun Revision eingelegt.
Norhans A.s Nichte sagt
"Die Gefahr, in der ihre Tante schwebte, wurde von den Behörden nicht ernst genug genommen." Und tatsächlich steht die Frage im Raum: Könnte Norhan A. noch leben, wenn sie besser geschützt worden wäre?"
Rima A.
"Es hieß immer wieder: Es kann nur was unternommen werden, wenn was passiert. Und jetzt ist sie tot. Weil die Justiz versagt hat. Wenn die Behörden rechtzeitig reagiert hätten, dann wäre das vielleicht alles nicht passiert."
Im vergangenen August begegnet Norhan A. ihrem Ex-Mann vor ihrer Haustür. Er soll sie geschlagen, getreten und auf sie eingestochen haben. Vor mehreren Augenzeugen. Eine davon ist Inge M., hier im Polizeiwagen.
Später beschreibt sie, wie sie Norhan A. schützen wollte und sich so selbst in höchste Gefahr brachte.
Inge M., Zeugin
"Die Frau kam raus oder war draußen. Der Mann ist ihr gefolgt und hat ein Messer gezückt. Dann hat er sie erst einmal hingeworfen. Dann ist sie nochmal aufgestanden. Und dann ist sie weitergegangen bis zu diesem Ort, bis zu diesem Platz. Und dann hat er dreimal ins Herz gestochen. Ich hab versucht sie ... also ihn abzubringen von ihr. Ich habe mich beschützend auf sie raufgelegt. Er hat abgelassen, er hat akzeptiert, dass ich versuche ihr zu helfen. Und ist dann auch wirklich zurückgewichen. Ist dann weggegangen und hat eine Zigarette geraucht."
Norhan A. wird mit 21 Jahren mit dem 13 Jahre älteren Yasser B. verheiratet. Die beiden bekommen vier Kinder. Norhan A. trennt sich, weil sie selbstbestimmt leben möchte. Yasser B. will das nicht akzeptieren, wird gewalttätig und die Situation eskaliert zunehmend.
Norhan A. dokumentiert ihr Martyrium: Anzeigen, Arztbriefe und Annäherungsverbote.
Rima A.
"Ja, dieser Ordner, den hat meine Tante bevor sie verstorben war für sich erstellt. Wenn er sie zum Beispiel geschlagen hat oder wenn er gewalttätig gegenüber ihr wurde. Hätte sie jetzt diese ganzen Beweise nicht, würden wir nichts hier beweisen können. Ich hätte hier ja auch sonst was erzählen können."
Bevor Yasser B. seine Ex-Frau tötete, wurde er dreimal verurteilt – zu Geldstrafen. Wegen diverser Fälle von Körperverletzung, Bedrohung und Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz – also Verstößen gegen Annäherungsverbote.
Doch Yasser B. lässt sie nicht in Ruhe.
Die Behörden nehmen die Bedrohungslage zunächst ernst, vermitteln Norhan A. an eine Hilfsorganisation, die ihr einen Umzug ermöglicht.
Rima A.
"Das war auch eine Schutzwohnung, also da durfte keiner wissen, wo sie wohnt. Das erste Jahr hat er sie in Ruhe gelassen. Sie war ja zwei Jahre ungefähr da, also in der neuen Wohnung. Und dann ging es los. Und dann kam er wieder und immer wieder und hat wieder Terror gemacht."
Erneut eskaliert die Situation:
Denn Yasser B. darf die vier Kinder nach wie vor treffen – das erlaubt ihm das sogenannte Umgangsrecht.
Auf diese Weise hat er offenbar die Adresse der Schutzwohnung herausgefunden.
Mirjam Golm, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, hat das bei der Justizverwaltung erfragt. Sie weiß: Es ist kein Einzelfall.
Mirjam Golm, SPD, Abgeordnetenhaus Berlin
"Ich sehe das Hauptproblem darin, dass einfach Gewaltschutz nicht vor Umgangsrecht steht und der Anspruch von Gewalttätern, die er nach dem Gesetz haben, ihre Kinder zu sehen, finde ich schwierig. Der muss überarbeitet werden und auf jeden Fall darf er die Opfer nicht gefährden und den Aufenthaltsort preisgeben."
Seit Yasser B. die neue Adresse kennt, ist Norhan A. in der Schutzwohnung nicht mehr sicher.
Aus einem Urteil geht hervor: Ein Jahr bevor Yasser B. seine Ex-Frau erstach, drohte er eine solche Tat bereits an:
"Ich werde dich umbringen, ich werde deine Seele herausnehmen."
In den Monaten bevor der 50-Jährige seine Ex-Frau tötete, stand er immer wieder vor ihrer Tür. Dreimal zeigte sie das an.
Sie beantragt, in ein Hochsicherheitsprogramm des Berliner Landeskriminalamts und der Hilfsinitiative BIG aufgenommen zu werden: Es soll Frauen schützen, deren Leben akut bedroht ist. Das Programm hat schon Menschenleben gerettet.
Auch im Ausland wird es erfolgreich angewendet – seit 2011 etwa in Großbritannien, wo bis heute so über 20.000 Frauen geschützt werden konnten. Hier lässt sich Königin Camilla darüber informieren.
Das Berliner LKA und BIG bitten uns nachdrücklich darum, keine weiteren Details über die Schutzmaßnahmen zu berichten – zum Schutz bedrohter Frauen.
Recherchen von ZEIT Online und Kontraste zufolge war Norhan A. Teil dieses Programms - bevor sie in die Schutzwohnung zog. Der erneute Antrag wird jedoch offenbar abgelehnt.
Rima A., Nichte
"Und als sie dann nach Steglitz gezogen ist, hat das LKA in Steglitz gesagt sie braucht kein *unkenntlich*. Warum? Weil er nicht gewalttätig ist. Dieser Typ hat sie drei Jahre vorher in Neukölln misshandelt. Sie haut nach Steglitz ab nicht umsonst. Und ihr stuft ihn in Steglitz ein, dass der nicht brutal ist. Warum?"
Wie kann es sein, dass Norhan A. trotz ihrer bedrohlichen Lage nicht wieder in das Schutzprogramm aufgenommen wurde? Galt sie für das LKA als "nicht gefährdet genug"?
Hierzu will sich die Berliner Polizei nicht äußern – anderenfalls sei der Erfolg dieser Maßnahmen in Zukunft grundsätzlich gefährdet.
Die Hilfsorganisation BIG teilt uns mit:
"Auch wir trauern um Norhan A. und würden ihren Angehörigen gerne die Möglichkeit bieten, durch eine lückenlose Aufklärung des Geschehens Gerechtigkeit zu erfahren.”
Doch auch sie wollen keine Details preisgeben, dies könne andere Frauen gefährden.
Aus einem Bericht von BIG geht hervor, dass in den Jahren 2021 und 2022 je 77 hochgefährdete Frauen in Berlin in dem Schutzprogramm betreut wurden. 2023 waren es nur noch 41 Frauen, knapp halb so viele.
Auf Nachfrage heißt es: Die Zahlen seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, hier sei "fälschlicherweise" ein "interner Sachbericht" veröffentlicht worden.
Ein Frauenhaus in Berlin beklagt eine ähnliche Entwicklung. Es seien im letzten Jahr von mehreren für das Schutzprogramm vorgeschlagenen Frauen alle abgelehnt worden. Eine von ihnen werde sogar von einem Mann bedroht, der wegen eines Femizids mit internationalem Haftbefehl gesucht wird.
"Vor einigen Jahren wären diese Frauen sofort aufgenommen worden, sie erfüllen alle noch immer gültigen Kriterien des LKA. Wir wissen nicht, was sich verändert hat, wir erhalten dazu keine Erklärungen", heißt es von einer leitenden Mitarbeiterin des Frauenhauses.
In vertraulichen Gesprächen äußern mehrere mit dem Schutzprogramm vertraute Personen gegenüber Kontraste und Zeit Online den Verdacht, gefährdeten Frauen würde weniger Glauben geschenkt als früher.
In Norhan A.s Fall müssen sich die Behörden noch einen weiteren Vorwurf gefallen lassen: Als Yasser B. seine Ex-Frau tötete, war sein Aufenthaltstitel in Deutschland seit einer Woche abgelaufen.