rbb
Sicherungsverwahrung | Bild: rbb

- Sicherungsverwahrung – Wegsperren bis in alle Ewigkeit?

Die Zahl der Häftlinge in Sicherungsverwahrung hat sich in Deutschland seit den 90er Jahren verdreifacht. Spektakuläre Einzelfälle bei Sexualstraftaten treiben die Politik dazu, die Gesetze zu verschärfen. Die Folge: Auch immer mehr ungefährliche Täter bleiben nach Verbüßung ihrer Strafe im Gefängnis – womöglich bis zum Tod.

Wegsperren – und zwar für immer! Wissen Sie, wer das gefordert hat? Altkanzler Gerhard Schröder war es, der sich für ein härteres Vorgehen gegen Sexualstraftäter aussprach und damit vielen, vielleicht auch Ihnen, aus der Seele sprach. Doch die so genannte Sicherungsverwahrung, die Schröder meinte, ist jetzt umstrittener denn je: Soll man, darf man einen jugendlichen Straftäter, der seine Strafe abgesessen hat, unbegrenzt hinter Gitter lassen, weil möglicherweise eine Rückfallgefahr besteht?! Ja, man darf, haben dazu jetzt gerade die Richter am Bundesgerichtshof spektakulär geurteilt. Doch ist das wirklich so einfach mit dem Wegsperren für immer? Norbert Siegmund.

2054. Eine Gesellschaft im Sicherheitswahn. Science Fiction, von Hollywood-Regisseur Steven Spielberg inszeniert. Eine Sonderpolizei jagt Menschen wegen Verbrechen, die es nicht gegeben hat. Festnahmen und Inhaftierung allein zwecks Vorbeugung, um Taten zu verhindern.

Filmausschnitt „Minority Report“
„Ich verhafte Sie wegen der zukünftigen Morde an Sarah Marx und Donald Dugan, die heute, am 15. April um 8 Uhr 4 Minuten stattfinden sollten.“  „Nein, ich habe nichts getan!“

Eine düstere Utopie. Doch von der Gegenwart gar nicht so weit entfernt.

Justizvollzugsanstalt Berlin Tegel. Auch hier sitzen Gefangene - wegen Taten, die gar nicht begangen wurden. Sondern wegen Taten, die sie theoretisch begehen könnten. Von normalen Häftlingen getrennt: Die Abteilung für Sicherungsverwahrte, Ex-Strafgefangene, die eingesperrt bleiben, obwohl sie ihre Strafe längst verbüßt haben.

So der 57-jährige Klaus Witt, mehrmals verurteilt, unter anderem weil er Geldboten überfiel. Insgesamt fast 30 Jahre saß er hinter Gittern, was knapp zwei Mal lebenslänglich entspricht. Seine Haftstrafe hat er längst verbüßt. Jetzt sitzt er in Sicherungsverwahrung – inzwischen schon seit 6 Jahren.

Klaus Witt, Sicherungsverwahrter
„Strafe war bei mir nötig. Dass ich Sicherungsverwahrung bekommen habe, war bei mir positiv, weil es mein Denken angeregt hat und mich zu ner Entscheidung gezwungen hat. Aber ick bin heute der Meinung, dass ick genug bezahlt habe, für das, was ich getan habe, und dass es jetzt zu Ende sein muss. Weil ick nicht mehr gefährlich für die Allgemeinheit bin.“

Hinter Gittern wegen Verbrechen, die Witt begehen könnte, wie Gutachter sagen. Frühere Verurteilungen basierten auf zweifelsfreien Beweisen. Die jahrelange Sicherungsverwahrung beruht auf Prognosen.

Rückfälle sollen so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Vor allem spektakuläre Einzelfälle von Sexualstraftätern bringen Politiker zu immer neuen Verschärfungen der Gesetze. Folge: Immer mehr Männer sitzen immer länger hinter Gittern. Doch oft ist das fragwürdig. Selbst bei ehemaligen Sexualstraftätern wie dem 76jährigen Klaus A.. Wegen Vergewaltigung und versuchten Mordes büßte er insgesamt knapp drei Jahrzehnte im Gefängnis. Weil er weiterhin als gefährlich gilt, bleibt er weggeschlossen. Obwohl er behauptet, zu Sex gar nicht mehr fähig zu sein.

Klaus A., Sicherungsverwahrter
„Seit 2003 oder watt kann ich gar nicht mehr. Geht gar nicht mehr. Im Gegenteil: Tut alles weh unten. Brennt und alles. Kann gar nicht mehr.“
KONTRASTE
„Und trotzdem gelten Sie als gefährlich?“
Klaus A., Sicherungsverwahrter
„Ja, die lachen alle schon.“

In Spielbergs Science Fiction sagt ein Orakel Straftaten voraus.

Filmausschnitt „Minority Report“
„Mord!“

Hellseherei entscheidet hier, wer als gefährlich in Sicherungsverwahrung kommt. In der Realität sind es Gutachter, die die Gefahr von Straftaten nur prognostizieren können. Irrtum ausgeschlossen?

Alle zwei Jahre wird Ex-Geldräuber Witt begutachtet – als Grundlage für ein Gericht, das regelmäßig überprüft, ob er hinter Gittern bleiben muss. Witt versucht, sich als Gefängnisarbeiter zu beweisen. Er hat nie jemanden verletzt, behauptet er. Doch sein Gutachter stellt eine ungünstige Rückfallprognose – und beruft sich dabei auf eine lässige Bemerkung des Gefangenen. Witt sei nicht bereit, sich an gesellschaftliche Regeln zu halten, was Witt – Zitat aus dem Gutachten:
„… deutlich mit der Mitteilung dokumentierte, auch in Zukunft bei Rot die Straße zu überqueren.“

Klaus Witt, Sicherungsverwahrter
„Ich bin elf Jahre in Haft. Nicht ein Vorfall. Und so ein Mann entscheidet übern Schicksal von einer Person. Mit so einem Satz ist man stigmatisiert. Det wegzukriegen ist extrem schwer. Man muss mir eine Entwicklung zugestehen, auch im Alter, muss man mir eine Entwicklung zugestehen, dass ick mir eventuell im Positiven entwickelt habe, auch noch im Alter. Diese Möglichkeit muss man offenhalten. Und die hält er nicht offen.“

Klaus A., Sicherungsverwahrter
„Ob det überprüft wird oder nicht, des is gleich null. Des ist bloß, dass die sie sehen und dann gleich wieder raus. Das dauert nicht mal 5 Minuten. Das ist doch nüscht.“

Auch Ex-Sexualstraftäter Klaus A. gilt laut Gutachten weiter als gefährlich, obwohl er nach mehreren Operationen nur noch 52 Kilo wiegt und kaum noch heben kann. Dass der 76-jährge körperlich möglicherweise gar nicht mehr zu einer Gewalttat fähig ist, so beklagt sein Verteidiger Volker Ratzmann, interessierte den psychiatrischen Gutachter nicht.

Volker Ratzmann, Strafverteidiger
„Das Problem ist, dass Gutachter zu vorschnell zu dem Ergebnis kommen, dass Leute weiter eingesperrt sein müssen, weil sie gefährlich sind, und dass Gerichte zu wenig hinterfragen, was Gutachter ihnen liefern. Da kommen falsche Ergebnisse raus.“

Keine Einzelfälle, belegen Studien – so die des Tübinger Rechtsprofessors Jörg Kinzig. Bei den von ihm untersuchten Sicherungsverwahrten war die Rückfallgefahr sogar vergleichsweise gering.

Prof. Jörg Kinzig, Universität Tübingen
„Ich habe vor kurzem eine Gruppe von 22 Personen untersucht, die aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden aus Verhältnismäßigkeitsgründen, obwohl man sie als gefährlich eingeschätzt hat. Von diesen 22 Personen wurden aber in einem gewissen Zeitraum nur zwei schwer rückfällig.“

Nur zwei Rückfalltäter, vor denen die Gesellschaft zu Recht geschützt werden muss. Gegenüber 20, die möglicherweise zu Unrecht jahrelang weggesperrt wurden.

KONTRASTE
„Woran liegt das?“
Prof. Jörg Kinzig, Universität Tübingen
„Das liegt sicher daran, dass die Gutachter momentan eher geneigt sind, eine Person als gefährlich einzuschätzen, dann sind sie auf der sicheren Seite, es kann ihnen nichts passieren. Umgekehrt: Wenn sie eine Person als ungefährlich einschätzen, die Person wird entlassen, begeht eine schwere Straftat, dann läuft der Gutachter Gefahr, sich auf der ersten Seite der Bild-Zeitung wieder zu finden.“

Geradezu reflexhaft wurden zudem immer wieder auch die Gesetze verschärft - bis hin zur nachträglichen und sogar zur unbefristeten Sicherungsverwahrung. Dabei sind es nicht nur Mörder oder Sexualstraftäter, die in Sicherungsverwahrung sitzen.

Klaus Witt, Ex-Geldräuber
„Dass es auch andere Leute gibt, liest man kaum. Wo liest man in der Zeitung, dass hier ein Heiratsschwindler mit Sicherungsverwahrung sitzt. Gut, sind alles Straftaten. Aber mit einem Heiratsschwindler muss die Gesellschaft anders umgehen.“

Obwohl die Zahl schwerer Straftaten seit Mitte der neunziger Jahre gleich blieb, stieg die Zahl der Sicherungsverwahrten von bundesweit rund 170 auf über 500, also auf das Dreifache – ohne messbaren Gewinn an Sicherheit, aber auf Kosten der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Denn die Gefängnisse sind mit immer mehr und immer älteren Sicherungsverwahrten überfordert, sagt der Chef der Haftanstalt Berlin-Tegel. Resozialisierung sei unter diesen Bedingungen kaum noch möglich.

Ralph Adam, Leiter JVA Berlin-Tegel
„Die Menschen ziehen sich zurück. Und ich glaube allein diese Situation von Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit entspricht nicht unseren Vorstellungen von Menschenwürde.“

Klaus Witt, Sicherungsverwahrter
„Hier sind doch Wracks drinne, wenn ich ihnen sage, dass es hier Leute gibt, ich liege jetzt hier oben auf der Station fünf Jahre, die waren noch nicht ein Mal duschen in den fünf Jahren. Nicht ein Mal duschen. Die waren nie inne Freistunde. Fünf Jahre lang nicht. Die kommen aus ihrer Zelle nur raus zum essen. Ansonsten nix.“
KONTRASTE
„Warum?“
Klaus Witt, Sicherungsverwahrter
„Weil die kaputt sind. Weil die kaputt sind!“

In Spielbergs düsterer Vision landen die als gefährlich Verdächtigten in der so genannten Verwahrungshölle, weggeschlossen in eine Art Brutkasten. Bis zum Tode. Nur Science Fiction?

Volker Ratzmann, Strafverteidiger
„Die Sicherungsverwahrung kann bis zum Tode vollstreckt werden, also das heißt die Menschen sterben dann auch hinter Gittern. Und da tut man sich natürlich schwer, wenn man das mit den Grundsätzen der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe auch vergleicht, die ja nach 15 Jahren endet, und von der das Bundesverfassungsgericht gesagt hat: Sie muss immer die Perspektive haben, auch wieder in Freiheit zu gelangen.“

Für Ex-Räuber Witt zählt jeder Tag.

Klaus Witt, Sicherungsverwahrter
„Ich bin der Meinung: 30 Jahre müssten genug sein. Man muss mir noch ne Chance geben. Ick will nicht hier drinne sterben. Ich will nicht hier sterben. Ich will draußen sterben.“

Die Sicherungsverwahrung – in vielen Fällen eine Strafe nach der Strafe und dann noch unbefristet? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland kürzlich deswegen kritisiert, weil er einen Verstoß gegen die EU-Menschenrechtskonvention sieht.

Beitrag von Norbert Siegmund