ICE mit Sparschwein (Quelle: rbb-Grafik)
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- Spart die Bahn beim ICE auf Kosten der Sicherheit?

Gerade zur Winterzeit sind Pannen bei den ICE-Zügen der Bahn keine Seltenheit. Der Konzern beruft sich oft auf das widrige Wetter, wenn Züge zu spät fahren oder liegen bleiben. Doch das Problem liegt in Wahrheit oft woanders. Die Bahn spart bei ihren Wartungsarbeiten – bisweilen sogar Kosten der Sicherheit.

Bei der Deutschen Bahn fährt mittlerweile nur noch jeder 3. Zug an manchen Tagen pünktlich. Chaos seit Wochen auf den Schienen, Schnee und Eis sind daran schuld, sagt die Bahn. – Tatsächlich aber sind die ständigen Verspätungen oft auf mangelhafte Wartung zurückzuführen! Wir haben Belege dafür, dass einige ICE-Züge teils mit defekten und deshalb ausgeschalteten Bremsen über die Schienen rollten. Hintergründe von Ursel Sieber und Norbert Siegmund.

Bahn-Chaos im Winter. Massenhaft Zugausfälle und Verspätungen. Doch nicht immer ist das Wetter schuld.

Beispiel: Berlin Hauptbahnhof am Tag vor Heiligabend. Ausgerechnet in der Hauptreisezeit und ausrechnet auf einer der wichtigsten deutschen Fernstrecken: Zwischen Berlin und München fällt jeder zweite ICE aus. Temperaturen nur knapp unter Null ließen das Vorzeigeprodukt deutscher Eisenbahn-Hochtechnologie schlapp machen. Die verbliebenen Züge: überfüllt.

Fahrgäste
„Es ist natürlich ärgerlich, dass die Bahn ihre Technik anscheinend nicht so optimal im Griff hat.“
„Und dann die Preise. Wenn man das mit dem Ausland vergleicht. Also ich weiß nicht, wie da gemanagt wird.“


Bahnkunden brauchen Stehvermögen. Die Bahn schiebt’s auf das Wetter. Und auf die Hersteller der ICE. Schuld seien Konstruktionsmängel der Züge, behauptet sie. Und der oberste Aufseher über die Bahn, der Bundesverkehrsminister, legt nach:

Peter Ramsauer (CSU), Bundesverkehrsminister
„Es ist ein Armutszeugnis für die Hersteller des ICE, dass bei diesen niedrigen Temperaturen solche Betriebsstörungen eintreten.“

Was wir vom Minister nicht erfahren: Nach KONTRASTE-Recherchen hätten die massenhaften Zugausfälle vermieden werden können, wenn die Bahn ihre ICE ausreichend gewartet hätte.

Doch das ist immer seltener der Fall, bestätigen uns bundesweit mehrere Werkstattmitarbeiter und Lokführer. Einer hat den Mut, vor der Kamera zu sprechen. Damit er nicht um seinen Job fürchten muss, verfremden wir die Bilder:

ICE-Lokführer (nachgesprochen)
„Es ist speziell in den letzten Monaten, in denen sich die Situation zusehens verschärft, der absolute Ausnahmefall, wenn ich einen Zug übernehme, der wirklich komplett störungsfrei ist. Das ist die absolute Ausnahme. In der Regel haben die Züge Mängel.“

Wartungsmängel waren – und das sagt der Minister nicht – ein Grund für den Massenausfall von ICE über Weihnachten. Nach KONTRASTE-Recherchen gab es unter anderem Kurzschlüsse in elektrischen Klemmkästen an der Unterseite der Züge. Belüftungsöffnungen sollen eigentlich Kondenswasser und eindringende Feuchtigkeit ableiten. Doch wo sie nicht ausreichend gereinigt wurden, verstopften und vereisten sie. So staute sich Feuchtigkeit und es kam zu Kurzschlüssen. Die Elektronik vieler Züge fiel aus. Wartungsmängel mit großer Wirkung.

Zugausfälle und Verspätungen. Die wahren Ursachen werden den Kunden oft verschwiegen. Durch Zufall werden wir Zeuge so eines Vorgangs.

Berlin Hauptbahnhof im Dezember. Ein ICE nach Hamburg lässt auf sich warten. Wegen eines Schadens am Triebwagen, wie es über Lautsprecher heißt.

Lautsprecherdurchsage
„ICE 890 nach Hamburg Altona. Dieser Zug wird in Folge Triebzugschaden etwa 50 Minuten später abfahren.“

Die Ansage erweckt den Eindruck, dass es soeben erst auf der Strecke zu dem Schaden kam. Tatsächlich – so ergeben unsere Recherchen – war der Zug schon am Morgen in Hamburg mit mehreren sicherheitsrelevanten Schäden losgefahren. Und das, obwohl es dort zwei ICE-Instandhaltungswerke gibt. Warum werden solche Züge nicht vor der Fahrt instand gesetzt, fragen wir Lokführer?

ICE-Lokführer (nachgesprochen)
„Es sind keine Reservezüge mehr da. Wir fahren absolut am Limit seit längerer Zeit. … Es werden Fahrzeuge wieder in den Betrieb geschickt mit immer noch den gleichen Mängeln.“

Mit knapp einer Stunde Verspätung läuft der ICE schließlich in Berlin ein. Eine programmierte Verspätung. Denn wegen nicht reparierter Mängel musste der Zug von Anfang an langsamer fahren.

Uns wird ein Schadensprotokoll des verspäteten ICE zugespielt. Es belegt: An einem Waggon wurde eine Druckluftbremse wegen eines Bremsscheibenrisses ausgeschaltet. Eine von mehreren Bremsen des Zuges. Aber mit diesem Schaden fährt der ICE damals offenbar schon knapp zwei Wochen – und auch jetzt fährt er weiter, noch viele hundert Kilometer mit immer größerer Verspätung.

ICE-Lokführer (nachgesprochen)
„Nicht auszudenken, wenn bei Hochgeschwindigkeit eine solche Bremsscheibe, die ja physischen Belastungen ausgeliefert bleibt, vielleicht komplett reißt oder bricht. Ich möchte dieses Teil nicht verlieren. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass der Zug aus der Spur gehebelt wird und entgleist.“

Eine von mehreren Bremsen des Zuges schadhaft und deshalb ausgeschaltet. Kein Einzelfall, erfahren wir im Laufe unserer Recherchen. Was sagt die oberste Aufsichtsbehörde, das Bundesverkehrsministerium dazu?

KONTRASTE
„Nun sagen Werkstattmitarbeiter und Lokführer, dass es schon fast die Regel ist, dass Züge mit ausgeschalteten Antriebsaggregaten und ausgeschalteten Bremsen durch die Gegend fahren?“

Klaus-Dieter Scheurle (CDU), Staatssekretär Bundesverkehrsministerium
„Dem wird, glaube ich, Rechnung dadurch getragen, dass eben die Geschwindigkeit vermindert wird, so dass die Sicherheit wieder eingehalten werden kann. Die Sicherheit hat wie gesagt, Vorfahrt, es bedingt aber natürlich eine entsprechende Verspätung des Zuges.“

Statt die Bremsen instand zu halten wird einfach das Tempo etwas gedrosselt. Fragwürdige Sicherheit. Denn was passiert im Notfall, wenn plötzlich Tiere auf dem Gleis sind wie vor zwei Jahren in einem Tunnel bei Fulda? Oder wenn ein Baum auf’s Gleis stürzt wie im selben Jahr bei Brühl.

ICE-Lokführer (nachgesprochen)
„Wir haben nicht umsonst bei allen Fahrzeugen diese Bremsen. Bei einem Hindernis auf dem Gleis, womit natürlich niemand rechnet, etwa Bäume, die umstürzen. Da kann es im Gefahrenfall eben sein, dass diese ausgeschaltete Bremse dann doch fehlt.“

Der Bahnkonzern gibt uns kein Interview. Schriftlich fragen wir detailliert nach jedem einzelnen der Vorwürfe. Die Bahn bestreitet sie pauschal. Es würden nur sichere Züge die Werke verlassen, heißt es. Allenfalls – Zitat:
„Sogenannte ‚Komfortreparaturen’, beispielsweise das Instandsetzen defekter Kaffeemaschinen, werden in Einzelfällen zugunsten der Fahrzeugverfügbarkeit zurückgestellt.“

Nur intern - in einem Rundbrief an Mitarbeiter - räumt der zuständige Bahnvorstand, Jörg Manegold, Probleme ein, und zwar schon seit 2007, Zitat:
„Im Zeitvergleich beobachten wir heute einen spürbar instabileren Betrieb. (…) Da fehlen uns manchmal die Ressourcen, die Fahrzeuge in den Zustand zu bringen, den ein verlässlicher und hochwertiger Betrieb erfordert.“

ICE-Lokführer (nachgesprochen)
„Ich sage es als Lokführer, der ganze vorne sitzt. Wir sind immer die Ersten, wenn’s zu einem Unfall kommen sollte. Ich habe Verantwortung Hunderten von Fahrgästen gegenüber. Und ich möchte nicht über Jahre hinweg täglich am Limit fahren müssen.“

Die Bahn hat angekündigt, in den nächsten vier Wochen ihre ICE-Flotte mit einer Sonder-Reparatur-Aktion auf Vordermann zu bringen. -Regelmäßige Wartung hätte das erspart.

Beitrag von Ursel Sieber und Norbert Siegmund