Terroranschlag in Berlin - Massive Fehleinschätzungen der Berliner Behörden

Solange Anis Amri noch regelmäßig die Fussilet-Moschee in Berlin besuchte, galt er als Gefährder. Doch als die Moschee-Besuche ausblieben und Amri mit Drogen dealte, kamen die Sicherheitsbehörden zu der Auffassung, er sei jetzt nur noch ein Kleinkrimineller. Nicht die einzige Fehleinschätzung der Sicherheitsbehörden. Auch die Berliner Fussilet-Moschee, die seit langem als Standort des IS in Berlin gilt, wurde seit September 2016 offenbar nur noch sporadisch überwacht.

Anmoderation: Eklatante Versäumnisse der Behörden haben dazu geführt, dass der Attentäter Anis Amri sich in den Wochen vor dem Terroranschlag in Berlin unbeobachtet bewegen und das Attentat vorbereiten konnte. Soviel wussten wir bisher. Doch um herauszubekommen, wie es dazu kam, musste Kontraste die Hauptstadtpolizei vor Gericht zwingen, weitere Details bekanntzugeben. Jetzt wird klar, es gab grobe Fehleinschätzungen vor allem der Berliner Polizei. Hintergründe von Susanne Katharina Opalka, Jo Goll, Norbert Siegmund und Sascha Adamek

Polizeieinsatz in der Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit. Seit Jahren steht der Moscheeverein als Treffpunkt mutmaßlicher Terroristen im Visier der Sicherheitsbehörden. Ermittler fordern seit langem, dass die Moschee geschlossen und der Moscheeverein verboten wird. Nach Erkenntnissen der Bundesanwaltschaft aus Telefonüberwachungen sprechen selbst Moscheevorstände selbst von der "Moschee der ISIS-Leute" in Berlin.

Auch er ging in dieser Moschee ein und aus: Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt. Aus einem Kontraste vorliegenden Geheimpapier der Sicherheitsbehörden geht hervor: der radikale Islamist wohnte sogar in den Räumen der Moschee. Allem Anschein nach  sogar bis kurz vor dem Anschlag. Denn: Das so genannte  Personagramm, erstellt in der gemeinsamen Datenbank der  deutschen Sicherheitsbehörden, weist die Fussilet-Moschee als Adresse von Amri noch am 14. Dezember 2016 aus, 5 Tage vor dem Anschlag.

Brisant: Denn wenig später, fußläufig von der Moschee, kapert Amri am Tag der Bluttat in einem benachbarten Industriegebiet den Lkw. Ebenfalls fußläufig von der Moschee hatte er zuvor auch sein Bekennervideo gedreht.

Ein Terrorist in einem seit Jahren bekannten Terroristennest ? – überraschen konnte das Polizei und Verfassungsschutz eigentlich nicht.  Am Ende sterben 12 Menschen, werden über 50 verletzt. Und all das konnte quasi unter den Augen der Sicherheitsbehörden geschehen.

Amris Anlaufstelle und zeitweiliges Quartier, der Stützpunkt des IS in der deutschen Hauptstadt, ausgerechnet gegenüber einem Polizeirevier. Über Monate läuft hier eine versteckte Observationskamera der Polizei – 24 Stunden am Tag, rund um die Uhr.

Gerechtfertigt wird diese Videoüberwachung seit dem Herbst als Maßnahme zur Gefahrenabwehr Problem: Die Polizei hatte die Videobilder vor dem Anschlag nicht  regelmäßig ausgewertet – über Wochen nicht.

Renate Künast (Bü90/Grüne), Vorsitzende im Rechtsausschuss des Bundestages

"Da muss man einfach sagen: Das ist ja angewandte Schizophrenie. Wenn ich Gefahrenabwehr betreiben will, muss ich auch ein Interesse haben, zeitnah auszuwerten, um die Gefahr abzuwehren. Das ist schlicht und einfach dilettantisch."

Dilettantismus, der – gepaart mit weiteren Versäumnissen im Fall Amri, schreckliche Folgen haben wird.

Rückblende: Seit Winter 2015 wird Amri von der Polizei beobachtet, zeitweise in sogenannter Manndeckung sogar rund um die Uhr. Auch sein Telefon wird abgehört. Er wird als Gefährder eingestuft. Denn nach damaligen Erkenntnissen suchte er im Internet nach chemischen Formeln für die "Herstellung von Sprengmitteln", plante er die "Vorbereitung eines Anschlags mit Schnellfeuergewehren", deutete er einen möglichen "Selbstmordanschlag durch Sprengstoffgürtel" an.

Trotzdem: im September 2016 beendet die Berliner Generalstaatsanwaltschaft die Observation. Grund: Sie bekommt von der Polizei keine Informationen mehr, die den Terrorverdacht stützen.

Martin Steltner, Generalstaatsanwaltschaft Berlin

"Wir hatten darüber hinaus auch keine Erkenntnisse, dass er sich weiter in diesem islamistischen Umfeld, insbesondere des genannten Moscheevereins aufhält. Wir hatten entsprechende Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt nicht."

Und dabei bleibt es – obwohl sich  im Berliner Landeskriminalamt die Warnzeichen häufen. Mitte Oktober wird er in der länderübergreifenden Polizeidatenbank INPOL als "Foreign Fighter", als "mutmaßlicher IS-Kämpfer" erfasst. Gleichzeitig treffen Warnhinweise vom Marokkanischen Geheimdienst ein:

"Amri sei Anhänger des sog. IS" und er "... führe ein Projekt aus".

Trotzdem beantragt das Landeskriminalamt keine neuen Überwachungsmaßnahmen bei der Staatsanwaltschaft. Der entscheidende Grund: Amri verhält sich angeblich nicht mehr wie ein Islamist.

Andreas Geisel, SPD, Berliner Innensenator

"Er war ein Drogendealer. Er hat selber Drogen genommen. Er hat Alkohol getrunken. Er hat den Ramadan nicht eingehalten. Die Schlussfolgerung, die man daraus gezogen hat, war, dass aller Voraussicht nach die Gefahr eines islamistischen Terroranschlags bei Amri geringer eingeschätzt wurde. Mit heutigem Wissen war das ein Fehleinschätzung."

Fehleinschätzung nur nach heutigem Wissen? Der Tunesier, der im Juli in Nizza mit einem LKW in die Menge raste, war wie Amri der Polizei wegen Drogen- und Gewalttaten bekannt. Ebenso die Attentäter von Paris im Jahr zuvor.

Ahmad Mansour, Islamismusexperte

"Wir wissen von Fatwas, von Gelehrten, die in der jihadistischen Szene aktiv sind, die ganz klar und deutlich sagen: Begeht sogar Sünden, trinkt Alkohol, trefft Euch in Bars, in Kneipen, macht Euer Erscheinungsbild so westlich wie möglich, tragt Kreuz, wenn es sein muss, damit ich nicht auffällig werdet, damit man Euch nicht entdecken kann.

Renate Künast (Bü90/Grüne), Vorsitzende Rechtsausschuss im Bundestag

"Also wenn man aus den Verhaltensweisen von Amri schließt, er sei kein Gefährder mehr, weil er sich nicht an die Ramadan-Regeln und anderes hält, wenn man uns das anbietet, kann ich nur sagen: Entweder sind das absolute Dilettanten da, oder man versucht uns zu verarschen."

Allem Anschein nach bereitet Amri derweil im Umfeld der Moschee seinen Terroranschlag vor. Nur wenige Hundert Meter entfernt an einer Fußgängerbrücke nimmt er das Bekennervideo auf.

Das Video, entstanden im Spätherbst. Die Blätter im Hintergrund sind gerade noch grün.

Ebenfalls im Spätherbst, also während der Vorbereitung für den Anschlag, wird Amri vor der IS-Moschee aufgenommen. Im Oktober wird er zuerst vom Verfassungsschutz fotografiert, dann mindestens vier Mal von der heimlichen Observationskamera des LKA gegenüber der Moschee gefilmt, zuletzt eine Stunde bevor Amri mit dem LKW in die Menschenmasse rast.

Doch keines der Bilder wird zeitnah ausgewertet. Brisante Informationen – vor dem Anschlag immer wieder versandet. Die Staatsanwaltschaft erfuhr daher von all dem nichts.

Martin Steltner, Generalstaatsanwaltschaft

"Wenn wir Erkenntnisse gehabt hätten, dass sich Amri weiterhin dort in dem entsprechenden Spektrum bewegt, dann hätten wir die Bewertung der Beweissituation selbstverständlich noch mal überprüft."

Kontraste

"Das heißt: Unter Umständen mit dem Ergebnis, dass Amri unter Umständen wieder observiert worden wäre?"

"Das hätte das Ergebnis dieser Prüfung sein können. Richtig!"

Am 19. Dezember starben 12 Menschen. Über 50 wurden teils schwer verletzt.

Beitrag von Susanne Opalka, Jo Goll, Norbert Siegmund und Sascha Adamek