Verschnupfte Frau (Quelle: rbb-Grafik)
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- Angriff auf die Lohnfortzahlung - Bei Krankheit weniger Geld

Der Krankenstand in deutschen Unternehmen ist seit Jahren rückläufig. Trotzdem greifen manche Chefs zu fragwürdigen Mitteln. "Aktivprämien" erhalten bei ihnen Angestellte, die sich ein Jahr lang nicht krank melden. Die Errungenschaft der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird so immer öfter ausgehebelt.

Wenn Sie als Arbeitnehmer erkranken, dann haben Sie Anspruch darauf, vom Arbeitgeber bis zu sechs Wochen lang ihr Gehalt weitergezahlt zu bekommen. Das gehört zu den stolzen Errungenschaften unseres Sozialstaates. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ein wichtiges Arbeitnehmerrecht, das bisher gottlob nicht angetastet wurde. Bisher – denn jetzt haben Unternehmer eine fragwürdige Methode gefunden, dieses einst mühsam erkämpfte Recht auszuhebeln. Sascha Adamek.

Seit drei Uhr früh ist Busfahrer Thorsten Meyer unterwegs. Zehn Stunden dauert seine Schicht und sie verlangt ihm körperliche Fitness und Konzentration ab. Der Fahrplan ist eng gestrickt. So sitzt ihm immer die Zeit im Nacken.

Thorsten Meyer
„Cheffe,  das passt nicht.“

Nur die Ruhe bewahren, auch wenn das manchmal Mühe kostet:

Zeitdruck und hohe Verantwortung für die Fahrgäste. Der Stundenlohn dafür ist mickrig: 11 Euro brutto verdient Busfahrer Meyer. Und krank werden sollte er auch nicht. Denn dann das kostet ihn bares Geld. Fürs Gesundbleiben gibt es nämlich einen Bonus. 800 Euro "Aktivprämie" zahlt die Pinneberger Verkehrsgesellschaft Busfahrern, die übers Jahr nie gefehlt haben.

Und so funktioniert die Prämie: Für jeden Tag, den Thorsten Meyer wegen Krankheit fehlt, zieht ihm die Busgesellschaft etwas von den 800 Euro ab. Wäre er 14 Tage im Jahr krank, wäre die Prämie komplett pfutsch. Geldabzug bei Krankheit? Der Personalchef erklärt, was dahinter steckt:

Torsten Bökenheide, Personalmanager PVG
"Wenn Arbeitnehmer den berühmten, berüchtigten gelben Zettel einreichen, dann haben wir erstmal davon auszugehen, dass die Menschen anerkannt arbeitsunfähig erkrankt sind, wir wissen aber auch, dass der Blaumacher diesen gelben Zettel vorlegt. Und dann ist die Differenzierung wiederum schwierig."
KONTRASTE
„Aber reizen Sie damit nicht auch Arbeitnehmer an, krank zur Arbeit zu gehen?“
Torsten Bökenheide, Personalmanager PVG
„Ja, im Einzelfall sicherlich.“
KONTRASTE
„Aber ist das nicht im Busgewerbe, wo wir es mit vielen Kunden zu tun haben, höchst problematisch?“
Torsten Bökenheide, Personalmanager PVG
„Im Einzelfall ist es höchst problematisch, ja, wegen Ansteckung und wir wissen ja nicht, was die haben, im Einzelfall. Im Einzelfall erwischen wir aber auch die richtigen Leute mit dieser Prämie.“

Im Einzelfall will die Busgesellschaft Blaumacher erwischen. Busfahrer halten das aber für gefährlich:

Thorsten Meyer, Busfahrer
„Wir haben Verantwortung für die Fahrgäste, wir sollen sie sicher ans Ziel bringen, wir fahren keine toten Schweinhälften, sondern Fahrgäste und Sicherheit geht vor. Wenn ich aber 40 Grad Fieber habe, kann ich mich bestimmt nicht hundertprozentig auf den Verkehr konzentrieren.“

Krank zur Arbeit? Und das als Busfahrer. Kaum zu glauben. Am Betriebshof treffen wir einen Fahrer, der das offen zugibt:

KONTRASTE
„Wo ist denn die Grenze, ab wann gehen Sie nicht mehr arbeiten?“
Karsten Pawlak, Busfahrer
„Wenn ich früh nicht mehr aus dem Bett komme, wenn es gar nicht geht, sonst fahre ich.“
KONTRASTE
„Warum machen Sie das?“
Karsten Pawlak, Busfahrer
„Weil ich meine Familie ernähren muss, ich will mir später auch noch was leisten können. Und wenn man krank ist und dann Geld abgezogen bekommt, kann man sich nichts leisten. Aus dem Grund gehe ich arbeiten.“

In diesem Dortmunder Unternehmen wird das System mit der Prämie noch weiter auf die Spitze getrieben. Inhaber Jörg Hübner ist ein international erfolgreicher Unternehmer. Seine Arbeitnehmer erhalten sogar 1.000 Euro „Produktivitätsprämie“, aber nur dann, wenn sie ein Jahr lang nie fehlen.

Jörg Hübner, Unternehmer
„Hier im Betrieb gibt es keine Blaumacher.“
KONTRASTE
„Wie kommt das?“
Jörg Hübner, Unternehmer
„Durch die Prämie.“

In Hübners Firma gilt: Wer die Prämie haben will, darf nicht gefehlt haben. Und wenn einer trotzdem krank wird?

Jörg Hübner, Unternehmer
„Wenn jemand ansteckende Krankheiten hat, dann sagen die Kollegen: Steck mich nicht an, weil ich möchte meine Prämie haben. Dann bleibt der eben auch von vornherein zu Hause und kommt dann, wenn er gesund ist und macht dann über Gleitzeit und Überstunden versucht er wieder an dem Programm teilzunehmen und das gelingt.“

Doch das gelingt nur, wenn die Arbeitnehmer nach ihrer Krankheit bereit sind, ihre Fehlzeiten zu verrechnen. Sie können ihre Krankheitstage nacharbeiten oder angehäufte Überstunden abbauen. Oder sogar auf Urlaubstage verzichten. Wenn sie dazu nicht bereit sind, wird ihnen Geld abgezogen und zwar für jeden einzelnen Fehltag 100 Euro.

KONTRASTE
„Waren Sie denn mal länger krank, im Krankenhaus oder sowas?“
Frieda Kuschnereit
„Im Krankenhaus Gott sei dank noch nicht. Aber ich hatte schon mal drei Wochen eine stärkere Grippe gehabt, also war bettlägerig, da konnte ich natürlich nicht zur Arbeitkommen.“
KONTRASTE
„Das heißt, da haben Sie keine Gesundheitsprämie gehabt.“
Frieda Kuschnereit
„Doch, ich habe die Tage dann hinterher mit Urlaubstagen und Überstunden ausgeglichen.“

Nacharbeit von Krankheitstagen oder Verrechnung mit Urlaubstagen. Ist das zulässig? Das wollen wir von Professor Christiane Brors wissen. Jahrelang war sie selbst Arbeitsrichterin und kennt diese Praxis. Sie meint, generell seien Prämienabzüge gesetzlich zulässig, in so einem Fall aber nicht.

Prof. Christiane Brors, Arbeitsrechtlerin, Uni Oldenburg
„Das ist ein Versuch, das Entgeltfortzahlungsgesetz zu umgehen, wenn in den Krankheitstagen Überstunden abgefeiert werden. Auf diese Weise spart der Arbeitgeber in gesetzeswidriger Weise Lohn.“

Der Unternehmer Hübner will auf unsere Recherchen hin die jahrelange Praxis mit der Produktivitätsprämie nun juristisch prüfen lassen. Prüfen, das will nun auch die Busgesellschaft in Pinneberg.

Aber warum klagen Arbeitnehmer nicht gegen solche Prämien.

Prof. Christiane Brors, Arbeitsrechtlerin, Uni Oldenburg
„Der Arbeitnehmer steht vor der Schwierigkeit, unter Umständen seinen Arbeitsplatz zu riskieren, wenn er klagt. Oftmals ist es so, dass solche Ansprüche dann eingeklagt werden, wenn der Arbeitnehmer bereits gekündigt ist und insofern nichts mehr zu befürchten hat.“

Den Pinneberger Busfahrern, hier in der Kantine, ist klar: Es geht um ein Recht, dass bereits vor 100 Jahren erstritten wurde – die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Dagegen steht heute der Druck auch zu Lasten der eigenen Gesundheit Geld zu verdienen.

Norbert Jäckel, Busfahrer
„Wie oft kommen die hierher mit Fieber, Schwitzen und keuchen sich einen ab. Und gehen damit zur Arbeit. Und keiner sagt was dagegen.“

Übrigens: Gesundheitsprämien, Anwesenheitsprämien, Produktivitätsprämien gibt es allerorten.

Beitrag von Sascha Adamek