Betrug ohne Sühne - Warum Deutschland ein Unternehmensstrafrecht braucht

Frage: Wer verteilt morgens Knöllchen, ruft mittags die Hundebesitzer zur Ordnung und prüft danach noch schnell, ob der Volkswagenkonzern betrogen hat? Antwort: Das Ordnungsamt in Wolfsburg. Denn bei Betrügereien von Unternehmen handelt es sich lediglich um Ordnungswidrigkeiten und nicht um Straftaten. Für Straftaten können bislang nur einzelne Personen belangt werden, nicht das Unternehmen als Ganzes. In fast allen anderen Ländern ist das anders, dort gibt es ein Unternehmensstrafrecht, und die Staatsanwaltschaften müssen tätig werden.

Anmoderation: Heute wurde es bestätigt: Volkswagen steht im Abgas-Skandal vor einer ersten Einigung mit den US-Behörden. Der Konzern ist offenbar bereit, seinen Kunden in den USA Entschädigungen in Milliardenhöhe zu zahlen. Und VW drohen in den USA sogar noch weitere Strafzahlungen. In Deutschland dagegen, wo die meisten manipulierten Diesel-Autos verkauft wurden, tut sich so gut wie nichts. Schadensersatz, Wiedergutmachung, Strafe? Der Konzern hat hier wenig zu befürchten. Warum zeigen Chris Humbs und Markus Pohl.

Der Druck auf den VW Konzern wächst – vor allem aus den USA. In Deutschland aber treten die Ermittlungen wegen des Abgas-Betrugs auf der Stelle. Zwar führt die Staatsanwaltschaft Braunschweig ein Strafverfahren gegen mögliche Verantwortliche. Bis heute aber kann sie keinem einzigen Manager und auch keinem anderen Mitarbeiter eine konkrete Straftat nachweisen. Es ist fraglich, ob das jemals gelingen wird.

Der Konzern Volkswagen als solcher ist von den strafrechtlichen Ermittlungen nicht betroffen. Denn das Strafrecht gilt in Deutschland nur für Menschen, nicht aber für Unternehmen. Thomas Kutschaty, Justizminister in Nordrhein-Westfalen, hält das für absurd.

O-Ton Thomas Kutschaty, SPD, Justizminister Nordrhein-Westfalen

"Ich glaube gerade im Fall Volkswagen können wir feststellen, das war nicht die geplante Straftat eines einzelnen Mitarbeiters, sondern es war ein bestimmtes Ziel dahinter. Man wollte den VW-Konzern zum Weltmarktführer Nummer 1 machen, und das war ganz offensichtlich nur dadurch zu schaffen, dass man an der Elektronik gebastelt hat. Und das jetzt auf einen einzelnen Mitarbeiter die Verantwortung zu schieben, ich glaube das passt nicht. Hier war eine Unternehmensstrategie tatsächlich dahinter."

Wegen Fällen wie VW kämpft Kutschaty seit Jahren für die Einführung eines Unternehmens-Strafrechts. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hat er bereits ausgearbeitet.

O-Ton Thomas Kutschaty, SPD, Justizminister Nordrhein-Westfalen

"Wir brauchen da eine grundlegende Reform im Sanktionenrecht. Wir sollten das, was es ist, auch mit dem passenden Namen benennen. Hier handelt es sich um schwere Kriminalität mit extrem hohen Schäden. Und das ist eine Straftat!"

Heute ist Kutschaty bei seinen größten Gegnern zu Gast – den Vertretern des Industrie- und Handelskammertags. Der Wirtschaftsverband wehrt sich vehement gegen ein Gesetz, dass die Strafverfolgung von Unternehmen ermöglichen würde. Die Überzeugungsversuche des Ministers werden mit einem überraschenden Argument gekontert.

O-Ton Prof. Stephan Wernicke, Deutscher Industrie- und Handelskammertag

"Bedarf es denn einer Kriminalisierung der Wirtschaft? Bedarf es denn dessen, dass man Unternehmen in dieser Form an den Pranger stellt, dass es schlechthin die Vermutung gibt, ein Unternehmen handelt rechtswidrig? Diese Kriminalisierung der Wirtschaft, die mit dem Entwurf einhergeht, lehnen wir ab."

Tatsächlich arbeiten wohl die meisten Unternehmen gesetzestreu, das bestreitet auch der Minister nicht.

O-Ton Thomas Kutschaty, SPD, Justizminister Nordrhein-Westfalen

"Also wenn jemand etwas unter Strafe stellen möchte, dann spricht er ja längst noch keinen Generalverdacht gegen Unternehmen aus. Wir stellen auch bei natürlichen Personen Mord und Totschlag unter Strafe, und ich unterstelle keinem, den ich auf der Straße treffe, dass er ein potentieller Mörder oder Totschläger ist. Strafe dient nicht dazu, möglichst viele Leute zu bestrafen. Unser Strafgesetzbuch hat einen Schutzzweck: nämlich ehrliche vor wenigen schwarzen Schafen in der Gesellschaft zu schützen."

Wie wichtig das ist, zeigen die jüngsten Enthüllungen aus den Panama Papers. Bei so einigen Banken soll es zum Geschäftsmodell gehören, ihren Kunden bei der Steuerhinterziehung zu helfen. Und auch die großen Bestechungs-Skandale, wie etwa von Siemens, mit weltweit verteilten Schmiergeld-Kassen waren nicht das Werk einzelner krimineller Mitarbeiter.

O-Ton Prof. Stephan Wernicke, Deutscher Industrie- und Handelskammertag

"Ich werde nicht beschönigen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Es gab sicherlich Fälle, die uns auch als Deutscher Industrie- und Handelskammertag beunruhigen. Hier gilt es natürlich zu erforschen, was genau war. Für uns ist wichtig, dass man hier klärt, was schief gelaufen ist. Und ich möchte betonen, dass wir bereits Sanktionsmechanismen haben. Wir haben Sanktionsmechanismen im Ordnungswidrigkeitenrecht. Das heißt, das Instrumentarium im deutschen Recht liegt vor."

Tatsächlich ermöglicht das Ordnungswidrigkeitenrecht prinzipiell, Unternehmens-Delikte zu belangen. So wie Falschparken und andere Lappalien – mit einem Knöllchen! Statt eines Strafprozesses droht nur ein Bußgeld für die Konzerne. Die maximale Höhe: gedeckelt auf gerade einmal zehn Millionen Euro.

Wirtschaftsrechtler wie Michael Kubiciel halten diese Sanktionsmöglichkeiten vor allem bei großen Unternehmen für unzureichend.

O-Ton Prof. Michael Kubiciel, Wirtschaftsrechtler, Universität zu Köln

"Also ich glaube, dass es keine Polemik ist, wenn man sagt, es kann nicht sein, dass ein Falschparken nach den gleichen Rechtsregeln und den gleichen Sanktionen, nämlich ein Bußgeld, beendet oder sanktioniert wird wie ein massives Fehlverhalten, Pflichtverletzung innerhalb von Unternehmen. Für Google oder Amazon, aber auch für große deutsche Unternehmen, ist 10 Millionen Euro weder abschreckend noch erlaubt es eine in den Augen der Bevölkerung schuldangemessene Bebußung."

Hinzu kommt: Behörden oder Staatsanwälte können bei Ordnungswidrigkeiten zwar ermitteln – sie müssen es aber nicht. Das führt dazu, dass viele mögliche Knöllchen gegen Unternehmen erst gar nicht geschrieben werden, wie der Berliner Oberstaatsanwalt Thomas Schwarz ganz offen einräumt.

O-Ton Thomas Schwarz, Leitender Oberstaatsanwalt Berlin

"Was Optionales lässt man gerne weg, um Zeit zu sparen. Wir haben hier ein Ressourcenproblem. Die meisten Staatsanwaltschaften haben genau dieses Ressourcenproblem, zu wenig Personal, man macht nur das, was man muss, weil man es gar nicht mehr schafft, all das zu machen, was man sinnvollerweise machen könnte."

Kontraste

"Heißt es denn dann in der Konsequenz, dass Unternehmen nicht sanktioniert werden, obwohl sie sanktioniert werden könnten?"

O-Ton Thomas Schwarz, Leitender Oberstaatsanwalt Berlin

"Klare Antwort: Ja."

Laut einer Studie verzichten Staatsanwälte in drei Viertel aller Fälle darauf, ein Bußgeld zu verhängen. Und das hat Folgen:

O-Ton Prof. Michael Kubiciel, Wirtschaftsrechtler, Universität zu Köln

"Das Problem der mangelnden Abschreckung in Deutschland liegt nicht nur an der geringen Höhe von Bußgeldern, sondern auch an der Tatsache, dass in vielen Teilen Deutschlands Unternehmen nicht die Erwartung haben müssen, dass tatsächlich gegen sie vorgegangen wird. Weil es halt einfach so selten vorkommt und sich auch einfach auf große Konzerne und große Skandale beschränkt."

Und selbst da hapert es. Beispiel: der Schmiergeld-Fall Daimler. Der Stuttgarter Konzern hat 2010 in den USA weltweite Korruption gestanden und rund 70 Millionen Euro Strafe bezahlt. Der Autohersteller war damals an der New Yorker Börse notiert und unterlag damit auch den Gesetzen der USA. Und die sehen empfindliche Strafen für kriminelle Unternehmen vor. In Deutschland dagegen sah die Staatsanwaltschaft erstaunlicherweise von einem Bußgeld ab.

Der auf Wirtschaftsdelikte spezialisierte Kriminalbeamte Sebastian Fiedler beklagt: Die deutschen Strafverfolger hinken mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht hoffnungslos hinterher.

O-Ton Sebastian Fiedler, Bund Deutscher Kriminalbeamter

"Es kann ja nicht sein, dass deutsche Unternehmen, die im Ausland für ein gleiches Verhalten wirklich erheblich sanktioniert werden, in Deutschland nichts zu befürchten haben. Da wird ja schon ganz offenkundig, dass es hier ein Missverhältnis gibt und dass wir hier unsere Rechtsordnung noch nicht so ganz richtig nivelliert und aufgestellt haben in Hinblick auf die Herausforderungen."

Um wieviel größer in den USA der Druck auf Konzerne ist, zeigt auch der VW-Skandal. Neben Zivilklagen hat das US-Justizministerium auch ein Strafverfahren gegen das Unternehmen eingeleitet. Dass VW in den USA jetzt bereit ist, jedem Käufer 5.000 Dollar Entschädigung zu zahlen, ist eine Folge dieser Drohkulisse.

O-Ton Thomas Kutschaty, SPD, Justizminister Nordrhein-Westfalen

"Die Strafverfolgungsbehörden in den USA haben natürlich deutlich mehr Instrumente, auch tatsächlich tätig sein zu können. Dort gibt es ein Unternehmensstrafrecht, dort kann man härter durchgreifen gegen ein Unternehmen, das erhöht natürlich auch die Kooperationsbereitschaft des jeweiligen Unternehmens. Und das ist das, was ich in Deutschland auch gerne hätte."

Eigentlich hatte die Große Koalition schon vor drei Jahren vereinbart, ein eigenes Strafrecht für Unternehmen zu prüfen. Doch im Bundestag blockieren die Abgeordneten der Union bis heute eine Regelung. Mit einem Argument, das man schon aus der Wirtschaft kennt.

O-Ton Joachim Pfeiffer, wirtschaftspolitischer Sprecher CDU/CSU-Bundestagsfraktion

"Ich hab oft den Eindruck, dass es missbraucht wird, die Diskussion und die Forderung nach einem Unternehmensstrafrecht, um hier quasi die Wirtschaft insgesamt irgendwie an den Pranger zu stellen oder zu kriminalisieren, und das halte ich auch nicht für zielführend."

Und so bleibt es dabei: Vor deutschen Strafverfolgern brauchen sich kriminelle Unternehmen nicht wirklich zu fürchten.

Beitrag von Chris Humbs und Markus Pohl