
Polnische Reparationsforderungen und die deutsch-polnische Grenzfrage -
Die Reportage "Streit um Reparationsforderungen - Soll Deutschland an Polen zahlen?" hat viele Reaktionen ausgelöst. Auch der polnische Nationalsender TVP hat sich in den Hauptnachrichten seines 1. Programmes mit dem Film auseinander gesetzt. Dabei wurde die Aussage von Markus Meckel zur Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze missverständlich dargestellt. Wir veröffentlichen das Interview mit Markus Meckel, dem letzten Außenminister der DDR und dem Ko-Ratsvorsitzender der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, hier als Video in gekürzter Fassung und als Text in voller Länge.
Magdalena Schwabe: Sie waren häufig zu Gast in Polen?
Markus Meckel: Ich war ja 15 Jahre lang Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe, und da war ich natürlich ständig in Polen, ja. Aber auch seitdem besuche ich Polen regelmäßig.
Magdalena Schwabe: Da haben Sie selbst erlebt, wie sich alles im Wandel der Zeit verändert hat.
Markus Meckel: Ja, also, das war ja seit 1990 dann wirklich ein sehr wichtiger Prozess, wo man wirklich sagen kann, ein strategisch geplanter Begegnungs- und Versöhnungsprozess. Das kann man ja nicht anders sagen. Und wo die Geschichte natürlich auch im Hintergrund stand, aber auch die ganze Kooperation und die Integration in die Nato. Das waren die strategischen Herausforderungen.
Magdalena Schwabe: Das sind die Bilder (Anm. d. Red.: zeigt Fotos) mit den wichtigsten politischen Akteuren dieser Zeit, die diese deutsch-polnische Versöhnung zusammen gestaltet haben. Können Sie uns erzählen, wie Sie das empfunden haben? Wie haben Sie die Zeit und diesen Weg zur Versöhnung emotional empfunden?
Markus Meckel: Zentral war für uns im Herbst ‘89 mit der Friedlichen Revolution, dass man diese Revolution gar nicht verstehen kann, ohne dass man auch nach Polen und nach Ungarn schaut. Das war letztlich eine mitteleuropäische Revolution, die in Polen begonnen hat, mit dem Runden Tisch. Die in Polen dazu geführt hat, dass es die erste halbfreie Wahl im Juni 1989 gab, im Ergebnis mit Tadeusz Mazowiecki als dem ersten nicht kommunistischen Ministerpräsidenten im Ostblock.
Insofern war Polen sozusagen der Front-Runner in diesem Prozess, durchaus gemeinsam, auch mit Ungarn, wo die Konstruktionen andere waren, aber das, was in Polen und Ungarn passierte, was dann in der DDR passierte und später noch in der Tschechoslowakei im Jahr 1989, ist eben im Zusammenhang zu betrachten. Ich denke, man kann, was leider oft passiert, diese damaligen Ereignisse nicht allein national betrachten, sondern es war eine mitteleuropäische Revolution, in der Polen sozusagen den Anfang machte. Und auch die Orientierung gab, dass es eben nicht nur um ein paar Reformen, sondern um Freiheit und Demokratie im Grundsätzlichen geht. Diese haben wir damals gemeinsam errungen und das ist für mich bis heute ein ganz zentrales Symbol, das man festhalten muss. Dass unsere Beziehung, unsere deutsch- polnische Beziehung, die ja über das 20. Jahrhundert so voller Belastungen ist, dass diese so endete, dass wir Deutschen dann uns vereinigen konnten, mit der Zustimmung Polens und aller Nachbarn, war wunderbar. Nach dieser furchtbaren Geschichte des 20. Jahrhunderts, 45 Jahre, nachdem wir Deutschen so viel Schrecken über ganz Europa gebracht haben, waren diese Freiheitsrevolution und die deutsche Vereinigung die Glücksstunde der Deutschen. Vereint zu sein in Freiheit und Demokratie mit Nachbarn, die dem zustimmten, mit denen wir gemeinsam Freiheit und Demokratie errungen hatten, das ist für mich 1989/90! Das war gleichzeitig ein Glücksgefühl und eine Herausforderung für die Zukunft. Eine wesentliche Bedingung war dann die Anerkennung der polnischen Westgrenze, eine Aufgabe, für die ich mich als Außenminister in besonderer Weise eingesetzt habe. Dann der Nachbarschaftsvertrag, der ganz neue Möglichkeiten eröffnete. Insbesondere ging es dann darum, dafür zu kämpfen, dass die neuen Demokratien, Polen und die anderen mitteleuropäischen Staaten, Mitglieder der Europäischen Union und der Nato werden können. Es war für mich das Vermächtnis von 1989. Ab 1990 habe ich mich im Deutschen Bundestag dafür intensiv eingesetzt. Diese Erweiterung war dann kein Gnadenakt! Es musste deutlich werden, dass die neuen Demokratien das gleiche Recht haben, als Europäer, die Geschicke Polens, die Geschicke Europas in Zukunft mitzubestimmen.
Magdalena Schwabe: Und meinen Sie nicht auch, dass es ein Riesenkraftakt für eine ganze Generation war, die deutsch- polnische Versöhnung zu erarbeiten? Was steht jetzt auf dem Spiel, wenn man die Büchse der Pandora aufmacht und diese Reparationsfrage wieder aus Warschau gestellt wird?
Markus Meckel: Also ich halte das für einen Sprung zurück in vergangene Zeiten. Nicht, weil geleugnet wäre, was es an furchtbaren Verbrechen Deutschlands gegenüber Polen in der Besatzungszeit gab. Übrigens nicht nur in Polen, sondern auch in der Sowjetunion, also im heutigen Belarus, in der Ukraine, in Moldawien und Russland. Viele Millionen wurden umgebracht und dem Tod anheimgegeben. Aber den Anfang hat eben dieser Überfall auf Polen gemacht und hier ist an den Hitler-Stalin-Pakt zu erinnern. Es war ein Anfang, den die beiden großen Diktatoren Hitler und Stalin vereinbart hatten und insofern gehören diese ersten beiden Jahre der polnischen Besatzung durch Deutschland und durch Stalin auch in diese gemeinsame Geschichte. Das heißt, die Geschichte ist viel komplexer, als sie etwa mit einer solchen Forderung abgebildet wird. Dann ist aber wiederum auch der lange Weg der Versöhnung nach dem Krieg nicht zu vergessen, der übrigens aus der Gesellschaft heraus initiiert wurde. In den 60er Jahren waren es die Kirchen, die Evangelische Kirche in Deutschland mit der Ostdenkschrift, der Brief der katholischen Bischöfe, die eine zentrale Rolle spielten. Das hat tief in die Bevölkerung hineingewirkt. Dies war die gesellschaftliche Grundlage für die Ost-Verträge Willy Brandts. Denken Sie an Willy Brandt in Warschau, im Zusammenhang mit dem Vertrag mit Polen im Jahr 1970. Das ist eine Erfolgsgeschichte, die nicht nur Regierungshandeln betrifft, sondern wirklich das Zusammenhalten der Völker. Dem folgte Jahre später die völkerrechtliche Anerkennung der Grenze 1990, nach dem Sieg der Demokratie in Polen und im Zusammenhang der deutschen Vereinigung. Ich habe mich damals sehr dafür eingesetzt – und so kam es auch zum Streit mit Kohl. Helmut Kohl wollte die Entscheidung möglichst weit nach hinten schieben. Für ihn stand die anstehende Bundestagswahl im Vordergrund – er machte Wahlkampf und wollte die Stimmen der Vertriebenen als Wähler nicht verlieren, denn sie lehnten die Grenzanerkennung ab.
Das habe ich für völlig falsch gehalten, weil, anders als es Helmut Kohl damals formuliert hat, die Anerkennung der Grenze eben nicht der Preis für die Vereinigung war, mitnichten. Die Anerkennung der Grenze war die Folge aus den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Sie gehörte zur Nachkriegsordnung - und das ist zentral.
Und wer heute - nach so vielen Jahrzehnten - versucht, das ganze Bündel wieder aufzuschnüren, gerät in die Gefahr, dass in Deutschland etwa nationalistische Stimmen kommen, die plötzlich die Grenzanerkennung in Frage stellen, weil man etwa sagt: "Wir haben doch so viel Territorium abgegeben". Das heißt, wer in solche Fahrwasser uns führt, das ist nichts, was die Zukunft Europas oder was der Zukunft Europas guttut. Was wir brauchen - und das merken wir gerade angesichts des Krieges in der Ukraine - ist Geschlossenheit, ein gemeinsames Eintreten für die internationale Ordnung. Eine auf dem Recht basierende Außenpolitik, in der wir die Rechtsgemeinschaft der Europäischen Union stärken. Und hier wären so viele Aufgaben - für Deutschland und für Polen, da wir ja auch gemeinsam gegenüber der Ukraine solidarisch sind.
Magdalena Schwabe: Finden Sie, dass Polen noch irgendeine Art Ausgleich fordern darf? Wir wissen ja, dass beim Zwei-Plus-Vier-Abkommen die Reparationsfrage gar nicht thematisiert wurde. Polen hat also nach dem Krieg einen sehr hohen Preis bezahlt, weil die Reparationen über die Sowjetunion nie so richtig dort angekommen sind, wo sie sollten. Die Polen haben das Gefühl, dass die Asymmetrie in den deutsch-polnischen Beziehungen nach wie vor besteht und sie daher Recht auf Ausgleich haben. Sei das jetzt in Form von Reparationen oder Entschädigungen, oder auch einfach irgendeine Art von Wiedergutmachung. Meinen Sie, dass Polen, so wie es jetzt die PiS-Regierung fordert, Anspruch auf irgendeinen Ausgleich hat?
Markus Meckel: Ich denke, dass es einen solchen Ausgleich, eine solche Ausgleichsforderung, heute nicht mehr geben kann. Rechtlich ist das Thema seit den Pariser Verträgen von 1953 vom Tisch und man kann natürlich sagen, wie immer in der Geschichte, es waren damals die Falschen, Bierut (Anm. d. Red.: Staatspräsident der Volksrepublik Polen 1947-1952) hätte es damals nicht akzeptieren dürfen, und die Sowjets haben das durchgesetzt.
Aber die Frage ist doch: wann in der Geschichte sind Klärungen der Geschichte endgültig? Pacta sunt servanda. Das heißt, Verträge sind einzuhalten und wir wollen heute nicht alte Sachen neu thematisieren, sondern, wir wollen die Zukunft gemeinsam gestalten. Ich bin dafür, dass wir durchaus heute noch fragen: Wo gibt es aus dieser Verantwortung Deutschlands, in Bezug auf diese furchtbaren Verbrechen in Polen, noch offene Fragen: Wo gibt es Opfer, die vielleicht noch entschädigt werden können?
Diese Frage halte ich für legitim, ich vermute, es sind nicht so viele. Vielleicht Kinder, die entführt oder weggenommen worden sind, also Menschen, die heute noch leben. Daran kann man denken, oder auch überlegen, ob man polnischen Opfern heute noch helfen kann, denen es in Polen wirtschaftlich nicht so gut geht. Ich denke etwa an Pflegeeinrichtungen, die wir Deutschen finanzieren, um hier noch für die, die darunter leiden und lebenslang gelitten haben, um jedem noch wenigstens für die verbleibende Zeit das Leben zu erleichtern. Das wäre kein Ausgleich zwischen Staaten, aber zumindest ein Symbol, eine konkrete Hilfe. Solche Dinge sind wichtig! Oder ich denke daran, dass in Breslau heute darüber nachgedacht wird, die Kirche auf der Dominsel, vor der heute das Denkmal von Bischof Kominek steht, mit Glasfenstern auszustatten. Ein israelischer Künstler hat dieses Projekt entworfen. Die Stadt Breslau will das, die katholische Kirche möchte es ebenfalls. Ich bin dafür, dass wir in Deutschland das finanzieren, mit staatlichen Mitteln, sowie durch eine Sammlung. Das wäre ein Symbol, das eine neue Generation noch einmal an diese Initiative des Briefes der katholischen Bischöfe erinnert und uns in Polen und Deutschland gesellschaftlich zusammenführt.
Für solche Dinge, also konkrete Wiedergutmachung, Symbolisches, bin ich sofort. Denken wir z.B. auch an die Gedenkstätten der Vernichtung und anderer deutscher Verbrechen. Deutschland hat schon sehr viel für die Gedenkstätte Auschwitz getan. Aber da gibt es auch noch andere Gedenkstätten, wo vielleicht auch noch etwas zu tun ist. Solche konkreten Vorschläge würde ich außerordentlich begrüßen.
Ansonsten aber geht es darum, gemeinsam in Europa aktiv zu werden. Was können wir gemeinsam tun? Aktuell etwa für die Ukraine! Was können wir gemeinsam für den Aufbau in der Ukraine planen?
Wo können wir militärisch zusammenarbeiten für die Zukunft Europas und die gemeinsame Sicherheit in Europa?
Ich bedaure sehr, dass durch die Politik der heutigen PiS-Regierung solche Projekte ins Hintertreffen kommen oder gestört werden, durch solche Forderungen, wie bei den Reparationen.
Diese Forderung nach Reparation ist schlicht Wahlkampf. Man weiß, dass daraus nichts wird. Und man ist bereit für den Wahlkampf das Verhältnis unserer Länder zu belasten. Das nimmt uns Chancen und wir sollten versuchen zu kooperieren. Unsere Vergangenheit war damals furchtbar, inzwischen aber ist viel Segensreiches geschehen. Polen und Deutsche haben in den Jahrzehnten danach und auch in den letzten 30 Jahren in Europa vieles mit vorangebracht.
Magdalena Schwabe: Die deutsch-polnische Geschichte ist viel länger als die Geschichte der Kriege. Es ist eigentlich eine sehr friedliche Geschichte, das vergisst man schnell, wenn man immer nur das thematisiert, was an der Oberfläche liegt. Natürlich sollen sich die Kriege nicht wiederholen. Was wurde aber konkret bei den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen ausverhandelt und warum hat man gar nicht über Reparationen gesprochen? Die Polen behaupten zumindest, dass dies ausgelassen wurde.
Markus Meckel: 1989 hatten wir die friedlichen Revolutionen, und diese sind gewissermaßen eine mitteleuropäische Revolution. In der Folge gab es in Polen eine demokratische Regierung mit Tadeusz Mazowiecki. Es war klar, die deutsche Bevölkerung wollte die Einheit. Dann fiel die Mauer. Der Mauerfall ist, wie ich finde, nicht nur ein deutsches Datum. Wie für die Französische Revolution der Sturm auf die Bastille, so ist der Mauerfall das zentrale und symbolische Datum für diese mitteleuropäische Revolution. Sie ist zum Symbol geworden für das Ende des Kalten Krieges und für den Sieg von Freiheit und Demokratie auch für Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn und für uns Deutsche.
Dies wurde zum Ausgangspunkt. Und dann konnte Gorbatschow überzeugt werden, (Anm. d. Red.: die deutsche Einheit und die Nato-Mitgliedschaft des geeinten Deutschlands zu akzeptieren). Das war 1990 das zentrale Ergebnis von "Zwei-Plus-Vier". Diese Verhandlungen und die Zustimmung Gorbatschows war notwendig, weil die Alliierten des Zweiten Weltkrieges international die "Rechte über Deutschland als Ganzes" hatten. Das heißt, Deutschland konnte über sich selbst gar nicht souverän entscheiden, wir brauchten die Zustimmung dieser vier Alliierten zur deutschen Vereinigung, die im Rahmen von "2+4" verhandelt wurden. Und dann war es durchaus richtig, dass Tadeusz Mazowiecki sagte: "Aber Polen muss dabei sein, denn wir haben eine bis heute nicht letztgültig anerkannte Westgrenze." Die ist noch nicht völkerrechtlich abgesichert, trotz des Vertrages von Willy Brandt 1970, der das jedoch wollte.
Aber für das deutsche Verfassungsgericht und auch international war klar: es braucht diese Zustimmung der Vier und deshalb wurde die Frage der deutsch-polnischen Grenze dann mit zum Thema gemacht für Zwei-Plus-Vier. Ich selbst habe sehr dafür gekämpft, dass diese Grenze schnell und bedingungslos anerkannt wird. Darüber gab es Streit auch zwischen der DDR, also zwischen mir als deren Außenminister und der Bundesregierung, weil Helmut Kohl die Entscheidung eigentlich nach der deutschen Vereinigung entscheiden wollte. Im Rahmen von "2+4" wurde diese Frage dann im Juli 1990 geklärt, also unmittelbar nach der Zustimmung Gorbatschows für die deutsche Vereinigung und auch die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland.
In dieser historischen Situation war es nach meiner Einschätzung ausgesprochen klug von Polens Seite, die Grenzfrage zu thematisieren, aber eben andere, international als geklärt geltende Fragen wie die Reparationsfrage, nicht aufzuwerfen. Dies hätte den gesamten Prozess und übrigens auch die Anerkennung der Grenze sehr verkompliziert und eher nicht möglich gemacht. (Anm. d. Red.: Das Aufwerfen der Reparationsfrage hätte das Format von "2+4" infrage gestellt, denn Reparationen hätten auch andere Staaten vorbringen wollen. Die Grenzfrage jedoch betraf nur Polen und gab ihm eine Sonderstellung!)
Von daher, denke ich, war es eine kluge und weise Entscheidung, zumal ja auch unmittelbar nach der Grenzanerkennung im Rahmen der deutschen Vereinigung 1991 der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag abgeschlossen wurde. Beides gehörte zusammen, eines folgte aus dem anderen – und es war im Grunde ein zusammengehöriger Prozess, der dann ja viele Vorteile und Segen, auch für Polen, brachte.
Die deutsche Rolle beim Prozess der Annäherung und dann auch der Mitgliedschaft Polens und der anderen neuen Demokratien in der EU und auch in der Nato war zentral. Ohne Deutschland und Deutschlands Engagement wäre diese Mitgliedschaft so nicht möglich gewesen. Ich denke, das ist der Zusammenhang, den man auch bei Zwei-Plus-Vier mit im Blick haben muss und die Reparation passen da nicht rein, haben auch damals schon nicht gepasst - und heute ist das noch abwegiger.