Theaterkritik | Sibylle-Berg-Premiere im Gorki - Beschwingter Weltekel zwischen Leben und Tod

So 25.10.20 | 10:55 Uhr
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Katja Riemann, Vidina Popov, Svenja Liesau und Anastasia Gubareva, v.l., während der Fotoprobe für das Stück <<Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden>> im Maxim Gorki Theater Berlin, 22. Oktober 2020. (Quelle: imago images/M. Müller)
Bild: imago images/M. Müller

Sebastian Nübling bringt am Berliner Gorki auch den vierten und letzten Teil von Sibylle Bergs knallig-misanthropischer Theater-Reihe auf die Bühne. Mit etwas weniger Tempo als gewohnt - und mit dem spielfreudigen Gaststar Katja Riemann. Von Fabian Wallmeier

"Genieße den Moment", singen sie immer wieder. "Genieße den Moment", zu Fahrstuhlmusik, die sie den Keyboards und Laptops auf den mobilen Pulten abringen, die sie über die Bühne rollern. Dabei haben sie natürlich eigentlich gar nichts zu genießen, denn das hier ist schließlich ein Stück von Sibylle Berg, der Königin des knallig aufbereiteten, seltsam beschwingten Weltekels. Der ist zwar zutiefst humanistisch, aber eben nicht gerade der ganz große Carpe-diem-Genuss.

"Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden" ist der vierte und letzte Teil einer Reihe, die gleich im ersten Jahr der Intendanz von Shermin Langhoff am Berliner Maxim-Gorki-Theater ihren Anfang nahm - und am Samstagabend nun ebenda ihr Ende gefunden hat.

Mal im Chor, mal einzeln

Alle vier Stücke wurden von Sibylle Berg für das Gorki geschrieben und von Hausregisseur Sebastian Nübling uraufgeführt. Alle vier spielen vor dem Eisernen Vorhang auf der Vorderbühne - nur dass er nun beim Finale silbern glänzt.

Alle vier Stücke kreisen um die inneren und äußeren Widerstände, denen Frauen in der turbokapitalistischen individualisierten Moderne ausgesetzt sind. Alle vier sind eher Textflächen als handlungsgetriebene Stücke, alle vier haben keine genauen Rollenzuschreibungen - und alle vier Inszenierungen setzen auf den schnellen Wechsel zwischen chorischem und individuellem Sprechen, wobei der Fokus in den anderen drei Inszenierungen noch stärker auf dem Chor war als jetzt beim Finale.

Im hochdoekorierten ersten Teil der Tetralogie, "Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen", standen vier Frauen auf der Bühne, im zweiten, "Und dann kam Mirna", kamen vier Mädchen dazu. Im dritten, "Nach uns das All", standen den vier Frauen vier Männer an der Seite. Im abschließenden Teil sind es wieder nun wieder vier Frauen.

Katja Riemann während der Fotoprobe für das Stück <<Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden>> im Maxim Gorki Theater Berlin, 22. Oktober 2020. (Quelle: imago images/M. Müller)
Katja Riemann Bild: imago images/M. Müller

Gaststar Katja Riemann

Von den Schauspielerinnen aus Teil eins ist mittlerweile keine mehr dabei, aber die vier, die nun die Tetralogie beschließen, stehen ihnen in nichts nach. Katja Riemann ist eine von ihnen, neben Svenja Liesau, Vidina Popov und Anastasia Gubareva. Der Gaststar hat sichtbar Spaß an der Sache und fügt sich unprätentiös ein. Der ganze Abend ist darstellerisch ein Geben und Nehmen, eine gemeinsame Anstrengung, die nur mit den anderen und nicht gegen sie funktioniert. In identischen blaugestreiften Bademäntel, identisch nachlässig mittelgescheitelt und mit identischen übergroßen Brillen werden sie zu viert zu einer Person.

Jede der vier tritt mal in den Vordergrund, geht dann aber auch wieder im chorischen Sprechen der Gruppe auf. Nur Svenja Liesau, die spätestens seit ihrem Galaauftritt als "Hamlet" in der vergangenen Spielzeit als eines der größten Talente des Ensembles gelten darf, fällt einmal länger aus dem Rahmen: Ein Texthänger, als sie wodkatrinkend ihren geliebten oder bei näherer Betrachtung eigentlich gar nicht so geliebten Benny betrauern soll, wird als minutenlange, sehr komische Improvisation zum Höhepunkt des Abends.

Vernichtendes Resümee eines Lebens

"Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden" ist ein Rückblick auf das Leben der vierfaltigen Frauenfigur. Sie liegt auf der Intensivstation, nachdem sie als "verwirrte Einzeltäterin" mit einer selbstgebauten Bombe einen Anschlag auf die "Jahresversammlung libertäre Vordenker" verübt hat. "Bewaffneter Widerstand ist das Zauberwort", hatte sie beschlossen, ohne so richtig zu wissen, wogegen sie eigentlich aufbegehren wollte. Da liegt sie nun und denkt an ihr Leben zurück, so sprunghaft, wie es vielleicht nur eine tun kann, die zwischen Leben und Tod schwebt. Immer wieder piept ein Herzmonitor, atmen die Darstellerinnen schwer in ihre Mikrofone, um in das triste Jetzt der Intensivstation zurückzukehren.

Das ungeordnete finale Resümee, das die Frau hier zieht, fällt natürlich vernichtend aus: In der seelenlosen, schwanzgesteuerten Kapitalismus-Maschinerie, die ihr Leben bestimmt hat, ist sie letztlich untergegangen. In Sachen Liebe hat sie nichts von Dauer erreicht und auch die Familie ist nicht so recht intakt. Sie versteht nicht, wieso ihre Tochter ständig so empört ist und warum sie sich politisch engagiert. Derweil dämmert ihre verbitterte, demente Mutter vereinsamt in einem teuren Altersheim dem Ende entgegen.

Es hängt ein bisschen durch

Bergs Text ist wieder konsequent misanthropisch und pessimistisch, in seinen Überzeichnungen und mit seinen popkulturellen Aneignungen aber auch immer wieder sehr witzig. Wie schon in den drei vorigen Inszenierungen weiß Nübling vor allem das Karikierende und Satirische der Vorlage zu nutzen.

Ein wichtiger Name fehlt aber dieses Mal im Programmheft: Tabea Martin zeichnete bei den ersten drei Abenden für die Choreographie verantwortlich. Sie ließ die Darsteller*innen sehr präzise und gekonnt ungelenk über die Vorbühne jagen, ohne Atempausen, immer getrieben vom Text. Der Sog, den das schnelle Tempo der ersten drei Abende dadurch erzielte, entsteht bei "Und mit mir ist die Welt verschwunden" nicht durchgängig. Es gibt immer wieder Passagen, die ein bisschen durchhängen: in denen das Zackige der Choreographien fehlt, wenn die vier sich einfach nur an ihren Pulten festhalten.

Aber was will man schon auch tun, wenn es nach einem nicht so richtig guten Leben ans Sterben geht? Da kann man am Ende wahrscheinlich froh sein, wenn es überhaupt noch etwas gibt, an dem man sich festhalten kann.

2 Kommentare

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  1. 2.

    Festival der Diagnose, passt zum Gorki . Jeder Kindergarten ist interessanter. Und erst der Zoo. Oder einfach nur spazieren gehen, jetzt im Herbst in frischer Luft bei Wind und Sonne.

  2. 1.

    Die Menschen brauchen lustiges , deprimiert sind sie eh schon. Welch eine Ignoranz.

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