
-
Was geschah vor 80 Jahren und was wurde aus den Teilnehmern der Wannsee-Konferenz? Wir begleiten den Historiker Jakob Müller, der im Haus der Wannsee-Konferenz arbeitet und blicken auf einen neuen Fernsehfilm des ZDF, der die Konferenz beschreibt.
Gerade mal 90 Minuten dauert sie, die geheime Besprechung in der Villa am Großen Wannsee. Bilder von dem historischen Treffen gibt es keine. Ein neuer ZDF- Film zeigt, wie es gewesen sein könnte. Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, Reinhard Heydrich, versammelt 15 hochrangige Vertreter des NS-Regimes. Einziger Tagesordnungspunkt: Die Kooperation bei der geplanten Deportation und Ermordung europäischer Jüdinnen nd Juden.
Jakob Müller, Historiker
"Was Heydrich hier auf der Konferenz deutlich macht, ist eigentlich, die Entscheidungsbefugnis, die liegt jetzt bei mir. Egal in welchem Gebiet, die SS hat jetzt das sagen. Aber wir geben euch die Möglichkeit, euch nicht nur zu informieren, sondern eben auch ein Wörtchen mitzureden."
Deportationen, der Massenmord finden zu diesem Zeitpunkt längst statt. Alle Beteiligten wissen das. Nun soll geklärt werden, wie man ihn systematisch organisiert und koordiniert, um ihn auf ganz Europa auszuweiten. Und wer dabei für was zuständig ist.
Filmausschnitt, Die Wannseekonferenz, ZDF 2022, Regie: Matti Geschonneck
"Die Aufgabenstellung erscheint mir überaus ambitioniert. Ich betrachte mich durchaus als Kenner der Materie, aber ich vermag kaum zu überblicken, über wie viel Juden wir hier insgesamt reden."
- "Wir reden über 11 Millionen."
15 Schreibmaschinenseiten halten das Ergebnis der Konferenz fest. Verfasst vom Leiter des sogenannten Judenreferats Adolf Eichmann. Das Ziel, der millionenfache Massenmord, wird darin nicht beim Namen genannt. In nüchternem Bürokraten-Deutsch wird der Plan umschrieben und kaschiert.
Der Historiker Jakob Müller beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Wannseekonferenz und ihrem Protokoll.
Jakob Müller, Historiker
"Wir wissen, dass die hochrangigen NS-Führer, zum Beispiel Himmler, immer wieder darauf gedrängt haben, dass eine bestimmte Sprachregelung eingehalten wurde, aus Geheimhaltungsgründen. Und man muss es genau lesen, man muss zwischen den Zeilen lesen, um zu erkennen, was da gemeint ist."
So heißt es im Protokoll: "Evakuierung nach dem Osten" anstatt Deportation. Es ist die Rede davon, dass alle "entsprechend behandelt" werden.
Die Shoah – ein Verbrechen der Menschheit, das die Nazi-Bürokratie umfassend dokumentiert hat.
Jakob Müller, Historiker
"In den Ministerien von der Regierung hat man mit dem Anrücken der Sowjetarmee, mit dem Anrücken der Roten Armee, begonnen, Dokumente systematisch zu zerstören und zu vernichten. Und deswegen ist dieses Protokoll so wichtig. Also auf dieser hohen Ebene, auf der Staatssekretärsebene, was ja wirklich so die Regierungsebene ist, ist das eines der wichtigsten Dokumente."
30 Kopien des Protokolls werden im Anschluss der Konferenz an die Teilnehmer und ihre Dienststellen geschickt. Aber nur das Exemplar Nummer 16 des Unterstaatssekretärs Martin Luther bleibt zufällig erhalten. Wegen einer Intrige gegen seinen Chef, den Außenminister von Ribbentrop, wird Luther 1943 verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Seine Akten werden ausgelagert. Nur deswegen konnten die Nazis sein Protokoll vor Kriegsende nicht vernichten. 1947 finden es US-Soldaten.
Luther selbst ist da schon tot. Ebenso fünf weitere Teilnehmer der Konferenz. Von den anderen werden nur wenige nach dem Krieg vor ein Gericht gestellt. Nur bei Zweien steht die Beteiligung des Holocaust im Mittelpunkt. Einer davon Adolf Eichmann. Nach dem Krieg taucht er unter. Lebt in Argentinien. 1960 entführt ihn dort der israelische Geheimdienst. Sein Gerichtsprozess in Jerusalem geht um die Welt. Er zeigt keine Spur von Reue.
Filmausschnitt, Eichmann-Prozess
"Im Sinne der Anklage nicht schuldig."
Jakob Müller, Historiker
"Eichmann hat es verstanden, sehr erfolgreich sich eigentlich als ein kleines Rädchen im System darzustellen. Und erst so in den letzten 20 Jahren ist es eigentlich dazu gekommen, dass man gesagt hat: Moment, also Eichmann hat schon 1938 mit am Tisch gesessen, als Göring zu ner Konferenz gerufen hat, nach den Novemberpogromen, also nach der sogenannten Kristallnacht. Man kann nachweisen, dass er sehr viel selber die Initiative ergriffen hat."
Eichmann und zwei andere NS- Funktionäre werden zum Tode verurteilt. Die Übrigen: Obwohl sie in hohen Regierungskreisen des Dritten Reichs tätig waren werden sie nur geringfügig bestraft. Oft kommt es gar nicht erst zur Anklage. Andere bestreiten ihre Schuld, verharmlosen ihre Rolle, schieben die Verantwortung weg.
Jakob Müller, Historiker
"Man braucht diese Leute ja, man will einen neuen Staat aufbauen. Deutschland soll in den Westen integriert werden. Also der kalte Krieg ist ausgebrochen. Und wenn man eins über die Nazis sagen konnte, dann wars, dass sie Antikommunisten waren und dass sie Erfahrungen im Kampf gegen die Sowjetunion hatten."
Ab Ende der 40er Jahre werden die Strafen immer milder. Einige der Konferenzteilnehmer machen später sogar wieder Karriere: wie Gerhard Klopfer als Rechtsanwalt in Ulm. Oder Georg Leibbrandt als Politikberater und Lobbyist in Bonn.
Jakob Müller, Historiker
"Und das ist eben auch eine der großen Fragen. Die Leute in der Verwaltung, die hatten ja teilweise schon dem Kaiser gedient, waren dann also in der Weimarer Republik Beamte eines demokratischen Staates, waren dann im Nationalsozialismus Nationalsozialisten und wurden dann teilweise in die Bundesrepublik übernommen oder in die DDR. Und das ist ja das Interessante. Was sagt uns das denn eigentlich über unsere Verwaltung, über unsere Beamten, über unseren Staat, wenn die so wandlungsfähig sind, dass die egal welche Ziele ein Regime hat, dem dienen können?"
Autorin: Lilli Klinger