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Erst jetzt, durch den Krieg, erkennen viele in Westeuropa, dass die Ukraine eine eigene Kultur und Geschichte hat. Lange hat uns das nicht interessiert. Wir haben mit dem Osteuropa-Kenner und Historiker Karl Schlögel über die Kultur der Ukraine.
Seit fünfzig Jahren bereist er Osteuropa, kennt die Geschichte der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten wie kaum ein Zweiter. Als an diesem Vormittag der ukrainische Präsident Wolodymir Selenskyj zum Deutschen Bundestag spricht, ist das auch für Karl Schlögel ein seltener historischer Moment.
Karl Schlögel, Historiker
"Ich fand, dass er doch einen sehr wichtigen Punkt immer wieder angesprochen hat, nämlich die Berliner Mauer, dass nicht die Mauer jetzt weit im Osten wieder errichtet wird. Und es ist natürlich auch eine Stimme des Bittens, des Bittens, der Verzweiflung, nämlich dass zivile Objekte, Krankenhäuser, Theater bombardiert werden, er hat von diesem Massaker im Theater gesprochen. Äh, ja, das war sehr bewegend."
Lange kennt er Kiew, das Herz der Ukraine – das jetzt im Visier von Putins Angriffskrieg steht. Wo bis vor kurzem die Vision europäischer Freiheit lebte, beschwört der Präsident unter Lebensgefahr die Unabhängigkeit. Karl Schlögel bekennt, dass auch er die Ukraine lange nur als Teil des postsowjetischen Kulturraums ansah. Erst Russlands Überfall auf die Krim hat das geändert.
Putins Behauptung, die Ukraine habe immer zu Russland gehört: für Schlögel pure Propaganda. Ein Vorwand, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.
Karl Schlögel, Historiker
"Ich sehe eben einen Zusammenhang zwischen dem Scheitern der Modernisierung oder des sich neu Aufstellens des nachsowietischen Russland und der späteren Abfuhr der ganzen Probleme und Widersprüche nach außen. Ich denke, dass die Krim-Intervention oder Aggression dann ein Versuch war, durch einen kleinen, erfolgreichen, triumphalen und großartig inszenierten Occupations-Krieg sozusagen das Volk oder die Gesellschaft wieder hinter sich zusammenzuschließen."
Was Putin gar nicht kennt, so Schlögel, ist die lebendige kulturelle Vielfalt, die zwischen Lemberg im Westen und dem Donbass im Osten existiert. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich eine junge, europäische Identität entwickelt.
Die Sowjetunion betrachtete die Ukraine als Kohlelieferant und Kornkammer. Doch schon damals hatte sie ihre eigenständige Kultur, die Jahrhunderte zurückreichte.
Karl Schlögel, Historiker
"Spätestens im 19. Jahrhundert fangen alle Dinge an, die charakteristisch sind für moderne Nationsbildung, das heißt der Kampf um eine eigene Sprache, die Ausbildung einer Literatursprache, der Kampf gegen die Russifizierung, die Forderung, dann auch einen eigenen Staat zu bekommen. Und die Stunde kam dann eigentlich mit dem Zerfall der Imperien, sprich nach dem ersten Weltkrieg."
Nur ein halbes Jahr währt die Autonomie. Dann gerät die Ukraine als Teil der Sowjetunion in den Weltenkrieg zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus. Es dauert bis 1991, bis sie endlich als souveräner Staat auf die Bühne treten kann. Der Preis: sie muss ihre Atomwaffen abgeben. Aber den zahlt sie gern.
Karl Schlögel, Historiker
"Es gab ja bei der Auflösung der Sowjetunion ein Votum, das überwältigend war für die Unabhängigkeit und eine ganz bedeutende Rolle, muss man auch sagen, hat auch der Donbass gespielt, obwohl das der am meisten sowjetische Teil der Ukraine gewesen ist. Die Hoffnung war los von Moskau. "Wir schaffen das, uns neu aufzustellen"."
Die europäische Ausrichtung der Ukraine – fordert Putins altes imperiales Gesellschaftsmodell heraus. So stehen sich zwei Universen gegenüber, die Jungen und ihre weltoffene Kultur - und das rückwärtsgewandte autoritäre russische Regime. Putin bezichtigt Selenskyj, eine Marionette der Neofaschisten zu sein. Dieser kontert mit Instagram-Stories, berichtet von seiner Familie, von seiner jüdischen Herkunft und davon, dass sein Großvater gegen die Nazis kämpfte.
Karl Schlögel, Historiker
"Er verkörpert dieses zivile Pathos und den Mut und ich finde ihn großartig. Und er ist tatsächlich die Gegenfigur zu diesem verbitterten, bösen, niederträchtigen und hasserfüllten Typ, der in seinem Bunker im Kreml auf die Leute einredet."
Karl Schlögel tritt entschieden dafür ein, dass wir Deutschen Selenskyjs Aufruf wirklich ernst nehmen: der Ukraine in ihrem Kampf stärker beizustehen.
Autor: Norbert Kron