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Die vielfach ausgezeichnete russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja beschäftigt sich in ihren Werken seit vielen Jahren mit der russischen Gesellschaft und den Verwerfungen des russischen Politiksystems. Nach dem Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine hat sie einen offenen Brief mehrerer russischer Künstler*innen und Schriftsteller*innen unterschrieben und den Krieg als "Schande" bezeichnet. Bis zuletzt wollte sie in ihrer Heimat bleiben. Jetzt ist doch ausgereist und lebt vorerst in Berlin.
Ljudmila Ulitzkaja in Berlin. Seit gut 3 Wochen ist sie hier. Sie hat eine Wohnung hier. Ein Zuhause hat sie nicht mehr.
Ljudmila Ulitzkaja, Schriftstellerin
"Ja, ich liebe mein Zuhause sehr – und es ist das, was ich am meisten vermisse. Jeder Mensch hat drei Hüllen: Die erste ist unser Äußeres, das, was Gott uns gibt. Die zweite Hülle ist die, die wir uns selber erschaffen, das, was wir sind. Und die dritte ist unser Zuhause. Und dieses Zuhause vermisse ich sehr. Also habe ich ein Mantra für mich erfunden, dass ich – hier in dieser Wohnung sitzend – jeden Tag vor mich hinspreche: Ich lebe hier, ich lebe hier, ich lebe hier."
Hier, in Moskau, lebte sie bis zum 7. März. Dann kam ihr Sohn, packte ein paar Sachen und sagte zu ihr und ihrem Mann: Ihr müsst weg. Ljudmila Ulitzkaja ist die wohl erfolgreichste Autorin Russlands. Aber sie hat längst auch den Ruf einer Staatsfeindin. Zu oft hat sie ihre Stimme erhoben, wie hier 2011 bei den Protesten gegen Putins Wahlfälschung.
Sie hatte befürchtet, dass dieser Ex-KGB-Mann das Land zurück in stalinistische Verhältnisse führt. Jetzt, da Putin von "Volksfeinden" spricht, von "Abschaum", den man "wie Mücken ausspucken" müsse, wo ein Krieg nicht Krieg genannt werden darf, sondern "Spezialoperation", sieht sie sich in ihren Befürchtungen bestätigt.
Ljudmila Ulitzkaja, Schriftstellerin
"Ich bin ja schon sehr alt und habe diese ganze Sowjetzeit mitgemacht – das ist ja alles nichts Neues. Es ist ein Wiederaufleben der alten sowjetischen Muster. Sie holen das wieder heraus, aber die Welt hat sich verändert. Heute mit solchen Begriffen zu operieren, ist einfach beschämend."
Wir sind ein Land, das von der Angst geprägt ist, der Angst vor der Macht. Und diese Macht will keine Menschen, sondern Rädchen im System. Als Putin vor Kriegsbeginn seinen Sicherheitsrat zum Rapport bestellte, konnte man diese Angst selbst im obersten Zirkel der Macht studieren.
Ljudmila Ulitzkaja, Schriftstellerin
"Ich sehe mir das normalerweise nie an, weil mir dabei schlecht wird. Aber das habe ich gesehen. Was mich verblüfft hat, war der große Abstand, zwischen Putin und seinem engsten Zirkel. Und was ich besonders niederschmetternd fand, war, dass niemand auch nur eine Frage gestellt hat. Nicht einmal anstandshalber wurde eine Frage gestellt. Alle haben einfach tödlich geschwiegen."
Dieser Krieg ist eine Schande, sagt Ljudmila Ulitzkaja. Am ersten Tag der russischen Invasion schrieb sie in einem Text von ihrer Scham, dass die Regierung ihres Landes dafür verantwortlich ist. In Berlin führte sie einer ihrer ersten Gänge zum Zentralen Omnibusbahnhof. Sie wollte sehen, was dort geschieht: Wie die vor dem Krieg Flüchtenden aus der Ukraine empfangen werden.
Ljudmila Ulitzkaja, Schriftstellerin
"Auf dem Busbahnhof habe ich etwas Verblüffendes festgestellt: Je mehr das Böse erstarkt, desto mehr wachsen auch die Kräfte des Guten. Desto mehr wächst auch das Mitgefühl der Menschen. Das hat mich sehr berührt. Ich bin in gewisser Weise ja auch ein Flüchtling. Aber ich befinde mich natürlich in einer sehr viel komfortableren Situation als diejenigen, die dort ankommen, die überhaupt nicht wissen, wie es weitergehen soll."
Die Einnahmen, die sie jetzt aus Lesungen und Veranstaltungen erzielt, spendet sie für ukrainische Flüchtlinge. Ihr gehe es gut, sagt sie. Auch wenn sie das Gefühl habe, dass jemand ihr früheres Leben "mit einem Messer abgeschnitten" hätte. Ob sie je wieder nach Hause kann?
Ljudmila Ulitzkaja, Schriftstellerin
"Im Moment bemühe ich mich ehrlich gesagt, nicht darüber nachzudenken. Denn am Ende ist die Antwort ein Entweder-Oder: Entweder ich oder Putin. Solange Putin an der Macht ist, werde ich nicht zurückkehren können."
Hoffnung auf einen Machtwechsel in Moskau hat sie nicht – eine Kraft, die gegen Putin aufbegehren könne, sieht sie nicht. Er wird an der Macht bleiben, so lange er lebt, sagt Ljudmila Ulitzkaja. Und er wird vermutlich länger leben als ich. Doch trotz allem umweht sie ein bisschen Hoffnung. Ist das Optimismus?
Ljudmila Ulitzkaja, Schriftstellerin
"Wissen Sie, ich habe ein großes Interesse am Leben. Und ich bin immer sehr neugierig auf das, was passiert. Und auch auf das, was mit mir passiert. Ich weiß nicht, ob das Optimismus ist. Ich bin einfach neugierig. Mich interessiert das Leben."
Autor: Tim Evers