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An den Sowjetische Ehrenmalen in Berlin gedenken alljährlich am 8. und 9. Mai Menschen der Opfer des NS-Regimes und feiern den Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland. Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine erscheinen diese Denkmäler in neuem Licht: Sie werden mit Farbbeuteln attackiert und manche fordern gar einen Umbau - weil sie die Gewalttaten der russischen Armee der Gegenwart in die historischen Skulpturen hineinlesen. Wie sollten, wie wollen wir am 8. und 9. Mai an den Weltkrieg erinnern?
Das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park - ein Ort des Gedenkens. Über 7000 der in der Schlacht um Berlin gefallenen Soldaten der Roten Armee sind hier bestattet. Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa kommt aus einer russisch-jüdischen Familie und wuchs im Kaukasus in der ehemaligen Sowjetunion auf. Ihr Großvater war 1945 einer der Rotarmisten in Berlin.
Olga Grjasnowa, Schriftstellerin
"Es gibt natürlich diesen Impuls, immer zu glauben, dass der eigene Großvater ein Held war. Ich weiß nicht allzu viel über ihn, aber ich weiß definitiv, dass andere Familienmitglieder nicht immer nicht unbedingt die Helden waren. Natürlich bin ich wahnsinnig froh drum, dass der Zweite Weltkrieg so ausgegangen ist, wie er ausgegangen ist. Aber es auch war ganz lange Trauer, weil es wirklich keine einzige Familie gab, die keine Tote zu beklagen hätte."
In Moskau war es bereits kurz nach Mitternacht, als die Deutschen kapitulierten. Der Tag der Befreiung fällt daher auf den 8. und den 9. Mai.
Olga Grjasnowa, Schriftstellerin
"Ich glaube nach wie vor, dass der achte und 9. Mai immer noch ein sehr wichtiger Tag ist und auch ein Tag der kollektiven Erinnerung. Aber das ist natürlich immer die Frage: Wem überlassen wir den Tag?"
Der Tag der Befreiung jährt sich zum 77. Mal - und wird zurzeit durch die aktuellen Ereignisse überschattet.
Mischa Gabowitsch, Historiker
"Auch heute, im Jahr 2022, ist das nicht nur ein Tag, an dem man still der lange zurückliegenden Vergangenheit gedenkt, sondern es geht immer auch um die Bedeutung dieser Vergangenheit für das Heute. Und diese Bedeutung wird natürlich ganz unterschiedlich interpretiert."
Mischa Gabowitsch beschäftigt sich als Soziologe und Historiker in Potsdam mit der Vergangenheit und der Gegenwart des Kriegsgedenkens. Vor allem in den postsowjetischen Ländern ist dieses Thema mit besonderer Bedeutung aufgeladen.
Mischa Gabowitsch, Historiker
"Die Treptower Soldaten Statue wurde sehr schnell nach ihrer Entstehung im Jahr 1940 zu einem der wichtigsten visuellen Symbole des sowjetischen Siegs überhaupt."
Alljährlich kommen viele trauernde Familien am 8. und 9. Mai in den Treptower Park und gedenken der Soldaten der Roten Armee, in der damals auch Russen und Ukrainer Seite an Seite gegen die Nazis kämpften. Heute entlädt sich dort auch die Wut auf den Krieg der Russen gegen die Ukraine. Heute entlädt sich an solchen Orten auch die Wut über den neuen Krieg zwischen Russland und der Ukraine.
Olga Grjasnowa, Schriftstellerin
"Das ist nicht dieselbe Armee, die damals den Krieg gewonnen hat und die heute den Krieg führt. Und das ist, glaube ich, sehr wichtig zu unterscheiden, dass es nicht dasselbe Regime, das nicht dieselben Leute sind, nicht dieselben Motive. Ich glaube, es ist vor allem auch wirklich sehr wichtig zu fragen, aus welchem. Also das ist ein Angriffskrieg."
Putin will diesen Krieg rechtfertigen. Er spricht von "Entnazifizierung" - und spielt damit an, auf eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Kriegs von ‘41 - ‘45 - diesmal gegen die Ukraine. Er leugnet damit auch eine Erinnerungskultur, die Russland und die Ukraine bislang verbunden hat.
Wie sehr das jeweils eigene Verständnis von Geschichte den Blick auf den aktuellen Krieg überlagert, zeigen die emotional aufgeladenen Debatten der vergangenen Tage. Wie können wir unsere Wahrnehmung schärfen? Welche Lehren aus der Geschichte für heute ziehen?
Mischa Gabowitsch, Historiker
"wenn man daraus eine Lehre ziehen will, kann man sagen Alles Gerede darüber, ob die heutige Ukraine. Perfekt demokratisch ist oder noch nicht ganz. Ob es da Probleme mit Korruption gibt oder nicht. Natürlich gibt es die. Hat überhaupt keinen Einfluss darauf zu haben. Ob man sich jetzt militärisch unterstützt angesichts eines Angriffskrieges?"
Alexander Kluge, Schriftsteller
"Ukraine darf den Krieg nicht verlieren. Aber umgekehrt, sie zu ermutigen, zu siegen, was immer das heißt, ist die falsche Alternative."
Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge gehört zu den Mitunterzeichnern eines offenen Briefs an Bundeskanzler Scholz. Er warnt vor der Gefahr einer atomaren Eskalation. Er und mehrere bekannte Mitunterzeichner fordern: Man müsse jetzt so schnell wie möglich zurück an den Verhandlungstisch, um einen Waffenstillstand herbeizuführen.
Alexander Kluge, Schriftsteller
"Die Idee, dass man nur eine Seite sieht, ist falsch. Und das, was wir üben müssen an so einem Tag wie dem achten Mai ist zu sehen diesen jungen Mann in einem Panzer, der überfordert da fährt und den Rückwärtsgang einlegt. Und auf der anderen Seite die tapferen Zivilisten, die für ihr Land kämpfen. Aber die kämpfen für sich und ihre Sicherheit und ihre Identität. Sie kämpfen nicht für irgendeine gedachte Landesgrenze, die irgendein sowjetischer Funktionär irgendwann mal ausgedacht hat. Ich kann Ihnen sagen, die Reichsgrenzen von 1937 waren wir im April 1945 als 13-jährige Junge vollkommen egal."
Die Erfahrung des Krieges prägt Alexander Kluge bis heute - deswegen erinnert er uns daran, bedachtsam zu entscheiden. Doch wie der Krieg in der Ukraine enden soll - das weiß momentan keiner.
Alexander Kluge, Schriftsteller
"Frieden machen ist nämlich wirklich eine Kunst. Und Kunst erfordert konstruktives Denken. Kriege auslösen. Dazu brauchen Sie bloß einen Feldherrn, einen Affen, einen Verrückten, einen Defätisten."
Olga Grjasnowa, Schriftstellerin
"Putin hätte natürlich auch sehr gern den 9. Mai als den Tag des Sieges über die Ukraine gehabt. Aber es ist ja, das ist vollkommen ahistorisch und das sieht auch zum Glück nicht danach aus, dass es passieren wird. Und ich glaube, man darf es einfach. Man darf es nicht zulassen, dass sich das Ganze überlagert, dass es halt eben Putin führt. Eben kein Krieg gegen den Faschismus, sondern ein Angriffskrieg gegen die Ukraine und auch nicht den ersten in seinem Leben."
Autor: Max Burk