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Ein eigentlich privates Gefühl, die Scham, ist auf einmal eine Kategorie im öffentlich-politischen Raum. Insofern hat der österreichische Philosoph Robert Pfaller mit "Zwei Enthüllungen über die Scham" das Buch zur Zeit geschrieben, in dem er eine zunehmenden Bevormundung der Bürger durch die "neue Scham" analysiert.
Was ist mit uns los? Warum zeigen wir so gerne mit dem Finger auf andere und schreien: schäm dich! Ob beim öffentlichen Prozess der Hollywoodstars Johnny Depp und Amber Heard, beim Altkanzler Gerhard Schröder, der Masken-Affaire des Influencers Fynn Kliemanns oder dem Sylturlaub der Verteidigungsministerin Lambrecht: Ständig hallt es aus der selbstgerechten Echokammer – schäm Dich!
Der Wiener Philosoph Robert Pfaller dreht jetzt den Spieß um und fragt, ob sich nicht eher diejenigen schämen sollen, die ständig andere anprangern.
Robert Pfaller, Philosoph
"Dass die Leute auf der Grundlage sehr mangelhafter Information sehr radikale und vernichtende Urteile über andere fällen und auch öffentlich machen ist eigentlich ein vollkommen schamloses Verhalten. In einer wirklichen Schamkultur würde man genau das Gegenteil tun. Man würde versuchen immer dafür zu sorgen, dass niemand sich zu schämen braucht. Dieses Shaming, das in unserer Kultur herrscht, ist etwas vollkommen Schamloses."
Robert Pfaller ist ein unkonventioneller Denker und hat einen scharfsinnigen Essay geschrieben: "Zwei Enthüllungen über die Scham" - nicht nur eine philosophische Analyse, sondern auch eine Abrechnung mit unserer Debattenkultur, die an Selbstgerechtigkeit oft nicht zu überbieten ist.
Robert Pfaller, Philosoph
"Das, was im Moment bei uns stattfindet, ist, dass Menschen ständig aufgrund von kleinen oder großen Verfehlungen zur totalen Unperson werden. Und das ist nie angemessen. Da maßt sich die Öffentlichkeit ein moralisierendes Urteil an, das ihr nicht zusteht und das sozusagen gesellschaftliche Auseinandersetzung letztlich verhindert."
Robert Pfaller ist überzeugt, wir haben verlernt, einander zuzuhören und die abweichenden Meinungen anderer zu tolerieren. Jüngstes Beispiel der mittlerweile von fast 300 000 Menschen unterschriebene Brief an Kanzler Scholz. Mit den Verfassern wird oft nicht auf Augenhöhe diskutiert, sondern sie werden als naiv geächtet.
Robert Pfaller, Philosoph
"Das halte ich für extrem gefährlich. Das kann sich ganz böse rächen und ich glaube das ist ein minimales Solidaritätsgebot in der Gesellschaft. Wie schlimm immer jemand ist, er ist aber keine Unperson."
Robert Pfaller weitet unseren Blick auf alles, was heute im öffentlichen Diskurs steht, die Rede ist von Fleischscham, Zuckerscham oder Flugscham. Die Klimaschädlichkeit des Fliegens beispielsweise ist nicht erst seit Greta Thunberg bekannt, und doch ist heute jeder Flug mit dem unbehaglichen Gefühl der Scham behaftet. Wird die Scham zu einer Art Waffe in den Debatten, die wir führen?
Robert Pfaller, Philosoph
"Man nimmt ähnliche Größe und Vorsprung vom Können und Wissen und beim anderen immer als beschämend wahr. Und das, glaube ich, ist eigentlich sozusagen ein Symptom einer Kultur, die mit Scham nicht umgehen kann, weil man nicht versteht, dass die Auseinandersetzung mit Idealen die Fantasie anregt, Glück verschafft, ohne dass man deshalb sich selber schlechter fühlen muss, wenn man nicht so ist."
Robert Pfaller unterscheidet zwischen Scham und Schuld, bei der es immer auch eine Möglichkeit der Wiedergutmachung gibt. Die Scham hingegen ist endgültig und total. Jemand hat sich unmöglich gemacht und muss aus der Öffentlichkeit verschwinden. Doch hier liegt für Pfaller ein zentrales Missverständnis vor.
Robert Pfaller, Philosoph
"In der Scham ist es so, dass die Personen sich selber schämen und sich ausschließen aus der Öffentlichkeit. Das ist ganz anders als jetzt, wo wir die Leute sozusagen canceln und totstellen und von den sozialen Medien ausschließen und so weiter. Hier sind wir die Bestrafenden und das ist ein gravierender Unterschied zu Scham, die ja selbst strafend funktioniert."
Robert Pfaller plädiert für einen ehrlichen und angemessenen Umgang mit der Scham und fordert uns auf, uns nicht in unserem eigenen Sein zum Maß aller Dinge zu erheben, sondern unsere eigene Fehlbarkeit mitzudenken.
Robert Pfaller, Philosoph
"Entscheidend ist, glaube ich, zu sehen, dass die Scham auch Respekt verdient. Der Philosoph Diogenes hat einen Jüngling erröten gesehen und hat ihm zugerufen: "Mut, mein Sohn, das ist die Farbe der Tugend.". Das ist, glaube ich, eine entscheidende Erkenntnis, weil die Scham ist ja auch das, was uns solidarisch macht mit anderen. Die Scham verhindert nicht nur, dass wir uns Blößen geben, sondern die Scham leitet uns auch dazu an, über die Blößen anderer gnädig hinwegzusehen."
Autor: Max Burk