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Zu Beginn des Jahres 1990 besucht Fotograf Ergun Çağatay mehrere deutsche Städte. Dabei entsteht die umfangreichste Bildreportage zur türkischen Einwanderung und türkeistämmigen Präsenz in Deutschland. Die Ausstellung "Wir sind von hier" im Museum Europäischer Kulturen zeigt diese Fotos, die mitten hinein in die Lebenswelten der ersten und zweiten Generation von türkischen Arbeitsmigrant*innen führen. Wir treffen dabei auch Tuncay Karadeniz, der in den 1990ern Mitglied der berüchtigten Jugendgang "36 boys" war, die Ergun Çağatay ausführlich dokumentiert hat.
Tuncay Karadeniz lebt heute in Schöneberg, ist Unternehmer und Familienvater. Doch als Jugendlicher war das hier sein Revier: Die Gegend rund um das Kottbusser Tor. Er war Mitglied der berühmten Jugend-Gang "36 boys", die in Kreuzberg 36 das Sagen hatte. Mit 13 zieht Tuncay Karadeniz mit seinen Eltern in die Admiralstraße.
Tuncay Karadeniz, ehemaliges Mitglied der "36 boys"
"Das war mein Zimmer. Meine ganzen Freunde standen manchmal hier drüben, haben nach uns gerufen."
"Hier war mein Bruder."
Er lernt Mucai kennen, den Anführer der "36 boys". Sie werden beste Freunde. Und Tuncay Teil seiner Gang.
Tuncay Karadeniz, ehemaliges Mitglied der "36 boys"
"Man hat sich ja nicht am Anfang als eine gefährliche Gruppe oder so betrachtet. Als wir die Gang gebildet hatten, haben wir auch schon gemerkt, dass es auch seine Vorteile hat, weil ich habs damals schon auch gemerkt, dass man, ich sag mal, als Türke in bestimmte Bezirke auch gar nicht mehr gehen konnte. Man hat sich nicht getraut."
Eines Tages - im Frühjahr 1990 - wird Tuncay Karadeniz vom Istanbuler Fotografen Ergun Çağatay auf der Straße angesprochen.
Tuncay Karadeniz, ehemaliges Mitglied der "36 boys"
"Er hat gefragt o die ganzen Jugendlichen, die hier rumhängen zu einer gruppe gehören. Und da hab ich gesagt: ja."
Ergun Çağatay fotografiert die "36 boys" in ihrem Revier. Immer wieder liefern sie sich Straßenkämpfe mit Neonazis oder anderen Gangs, häufig bewaffnet.
Tuncay Karadeniz, ehemaliges Mitglied der "36 boys"
"Hier unten ist die Garage, wo sehr viele Ereignisse früher passiert sind."
Hier trainieren die Jungs für ihre Kämpfe. Der Fotograf aus der Türkei darf dabei sein.
Tuncay Karadeniz, ehemaliges Mitglied der "36 boys"
"Und das war halt ein Ort, wo wir uns mit unserer Gang getroffen haben, wenn wir neue Interessenten hatten zur damaligen Zeit. Wo die halt Mitglieder werden wollten."
Die "36 boys" hängen jetzt im Museum für Europäische Kulturen.
Alexandra Nocke hat eine Ausstellung mit den Fotos von Ergun Çağatay zusammengestellt.
Alexandra Nocke, Kuratorin
"Ergun Çağatay hat sich in diesen Tagen, in denen er in Berlin unterwegs ist, wie ein Flaneur, wie ein Beobachter auf seinen Spaziergängen in den Straßen und in den Moscheen und Geschäften dieses Stadtviertels bewegt und auch die Menschen beobachtet, wie sie sich in diesem Moment mit der neuen Realität, mit der gefallenen Mauer und mit der Aufmerksamkeit, die auf einmal dieses Stadtviertel bekam, auseinandergesetzt haben."
So porträtiert er den türkischen Basar in der Bülowstraße, der kurze Zeit später abgebaut wird. Oder einen Gemüsehändler, der als Pionier in den Osten geht, um dort Südfrüchte zu verkaufen. Ergun Çağatay reist auch nach Köln, Hamburg, Duisburg und Werl. Er gewinnt das Vertrauen der Menschen, besucht sie zu Hause. Den Warteraum einer Ausländerbehörde beschreibt er später als einen Ort der Angst. In Hamburg wird gegen das neue Ausländergesetz demonstriert.
Alexandra Nocke, Kuratorin
"Mit der Änderung des Ausländergesetzes im Jahr 1990 ging auch eine große Sorge einher in der türkeistämmigen Community, dass zum Beispiel Ausweisungsgründe deutlich verschärft werden und dass auch zum Beispiel der Nachzug von Familienmitgliedern nicht mehr ohne Weiteres ermöglicht werden konnte. Es ging eine Angst damit einher und eine große Verunsicherung."
Damals, 30 Jahre nach dem Anwerbeabkommen, fühlen sich viele türkische Migrant*innen von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Tuncay Karadeniz macht diese Erfahrung erst später in seinem Leben.
Tuncay Karadeniz, ehemaliges Mitglied der "36 boys"
"Sobald die Gastarbeiterkinder in der Arbeitswelt Fuß fassen wollten, dann war das Thema sehr wichtig. Dann hat man einige Male diese Konfrontation gehabt, dass man gemerkt hat: oh, man ist ja genau so gut, aber du kommst da nicht rein."
In seiner Jugend nimmt er die Ausgrenzung gar nicht wahr. Als Mitglied der "36 boys" fühlt er sich sicher. Zusammen sind sie stark, anerkannt, gefürchtet.
Tuncay Karadeniz, ehemaliges Mitglied der "36 boys"
"In dem Alter haben wir wirklich null darüber nachgedacht. Und wenn ich das jetzt im Nachhinein betrachte: es war für mich persönlich unbeschwerlich."
Autorin: Lilli Klinger