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Michel Friedman war ein einflussreicher Mann, als polarisierender Moderator, als stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden, als Mitglied des CDU-Bundesvorstands. Dann der Skandal um Koks und bezahlten Sex. Sein neues Buch ist radikal anders und radikal privat. Er schreibt darüber, sich sein ganzes Leben lang fremd zu fühlen.
Das Berliner Ensemble ist voll, an diesem Abend, wo doch manches Theater derzeit über Besuchermangel klagt. Ein kleines Gipfeltreffen, vorgestern. Igor Levit spielt Schubert, Michel Friedman präsentiert sein neues Buch, Constanze Becker aus dem Ensemble liest daraus.
Constanze Becker, Schauspielerin
"Irgendwo im Nirgendwo hänge ich.
Irgendwo im Nirgendwo lebe ich.
Ein Zuhause?
Eine Heimat?
Was verstehen sie darunter?
Welchen Preis zahlen sie dafür?"
Michel Friedman, Publizist
"Ich bin fremd in dieser Welt. Ich bin ein Fremder in diesem Land."
"Fremd" ist auch der Titel seines Buchs – Michel Friedman erzählt aus der Perspektive eines Kindes, erzählt von seinem Aufwachsen in Verunsicherung. Erzählt in Prosa.
Constanze Becker, Schauspielerin
"Immer wieder musste das Kind sich entscheiden,
Vertrauen oder Misstrauen?
Die Deutschen, meine Familie und der fünfzigfache Mord.
Erschütterung.
Atemlosigkeit.
Immer noch."
Michel Friedman, Publizist
"Gleich von Anfang an war es eine nackte Sprache. Es gibt kein Fett, es gibt keine Muskeln, es gibt keine Haut. Der Knochen ist nackt."
Constanze Becker, Schauspielerin
"Ich bin in Paris geboren.
Mein erster Ausweis: von den UN.
Staatenloser Flüchtlingspass."
1956 wird er geboren. Seine Eltern, aus Polen immigriert, haben den Holocaust überlebt, doch ihre Familien wurden ermordet.
Constanze Becker, Schauspielerin
"Meine Eltern und ihre Freunde:
Verkrüppelte Körper und Seelen.
Amputierte Existenzen."
Michel Friedman, Publizist
"Ich bin auf einem Friedhof geboren. Und die Traurigkeit meiner Eltern hatte ganz wenige Lichtquellen. Die stärkste Lichtquelle war das Kind. Es war, wenn Sie so wollen, ein liebevolles Zuhause, das aber auch von Trauer, Traurigkeit und Tränen überflutet war."
Mitte der sechziger Jahre zieht die Familie nach Deutschland – nach Frankfurt. Schon das zehnjährige Kind wundert sich – im Land der Täter scheint die Vergangenheit kein Thema zu sein.
Michel Friedman, Publizist
"Diese Diskrepanz zwischen dem, was ich erlebt habe, nämlich das Leiden unter dem, was die Täter gemacht haben und ein Deutschland, das zwischen Peter Kraus Rock’n’Roll und Wirtschaftswunder, die Frage, kaufen wir jetzt nen Mercedes endlich und das Zweifamilienhaus… Dieser Widerspruch hat mich umgehauen."
In Frankfurt lernt Michel Friedman auch Oskar Schindler kennen, den Mann, der seine Eltern vor dem sicheren Tod im KZ gerettet hat.
Michel Friedman, Publizist
"Was ich von ihm gelernt habe, für mich ist, der Satz: Was kann ich schon tun? Ist eine billige Entschuldigung für Feigheit oder Nichts-Tun-Wollen. Das Zweite, was ich von ihm gelernt habe ist tun und nicht reden. Die meisten reden und tun nicht. Er hat ganz wenig geredet. Er war ein ganz unprätentiöser Mensch, der auch nicht das Gefühl hatte, er hat etwas Besonders getan. Das hat mich besonders beeindruckt."
Michel Friedmans Mutter schreibt nachts Briefe, weil sie nicht schlafen kann. Sein Vater liest die FAZ, obwohl er kaum deutsch spricht – wieder eine Lektion fürs Leben.
Constanze Becker, Schauspielerin
"Papa sagt:
<<Du hast nur eine Chance. Werde klug. Lerne.
Sie können dir alles nehmen, nur nicht das, was du im Kopf hast.>>"
Michel Friedman will sein Buch aber nicht als eine Autobiographie verstanden wissen. Es geht ihm um die universelle Erfahrung des Gefühls, nicht dazuzugehören, vom "Wir" ausgeschlossen zu bleiben, als anders wahrgenommen zu werden – exemplarisch für viele menschliche Schicksale.
Michel Friedman, Publizist
"Ich bin markiert. Nicht, weil ich den Davidstern trage oder die Kippa, sondern mein Gesicht ist hier das Gesicht des Davidsterns. Jeder, der mich sieht, sieht mich sofort als Jude. Ich möchte aber nicht, wenn wir uns kennenlernen, als Jude gesehen werden, ich weiß auch ihre Religion nicht. Ich möchte eigentlich kennengelernt werden mit offenster Neugier und nicht bereits mr Vorurteilen."
Den Tod seiner Eltern beschreibt Friedman als den Beginn der größten Krise seines Lebens. Allein, einsam, verloren, so schildert er es – und er rutscht ab in dieser Zeit…
…der gefeierte und gefürchtete Talkmaster gerät in einen Skandal um Kokain und Prostitution, verliert Ämter und die große nationale Fernsehbühne.
Ausschnitt, Michel Friedman, TV-Sendung 2003
"Klipp und klar – ohne wenn und aber: Ja, ich habe einen Fehler gemacht."
Michel Friedman, Publizist
"Ich relativiere nicht, ich vertusche nicht, das zu vertuschen, oder irgendwie zu erklären. Das, was damals geschah habe ich zu vertreten, zu verantworten. Es tut mir heute genau so Leid wie damals, als ich es gesagt habe. Aber es ist passiert, auch das ist Leben."
Heute, sagt Michel Friedman, ist er so glücklich, wie er in seinem fremd sein nur sein kann, dank seiner Familie. Einen schmerzlich intensiven Text hat Michel Friedman geschrieben. Und das Kind von damals…
Michel Friedman, Publizist
"Das Kind - es lebt."
Autor: Steffen Prell