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Vor zweieinhalb Jahren, mit 80, gewinnt Helga Schubert den renommierten Ingeborg Bachmann Preis. Eine späte Anerkennung, auch wenn sie schon lange schreibt. Sie begann in der DDR als Schriftstellerin, geriet ins Visier der Stasi, arbeitete immer auch als Psychotherapeutin. Bei all dem war derselbe Mann an ihrer Seite. Ihr neues Buch "Der heutige Tag" ist auch eine Liebeserklärung an ihn und das gemeinsame Altwerden – trotz aller Widrigkeiten.
Zitat aus "Der heutige Tag"
"Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Bettbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr."
So beginnt der Tag. Es ist immer der gleiche. Der heutige Tag. Seit 15 Jahren pflegt sie ihren Ehemann 24 Stunden am Tag. Darüber schreibt sie. Derden, wie sie ihn im Buch nennt, ist multimorbid. Abends, wenn er schläft, da ist sie ganz bei sich, da schreibt sie.
Helga Schubert, Schriftstellerin
"Mein Schreiben ist eine Rettung für mich. Eine richtige Rettung. Ich muss mich ja am Tag auch mit Verwirrung eines sehr geliebten Menschen auseinandersetzen, mit der Verwirrung, in der er ist. Nicht auseinandersetzen, sondern: das muss ich tragen. Das ist selbstgewählt, dieses Leben, von mir."
Zitat aus "Der heutige Tag"
"Es gibt eine, die dich imitiert, die dich nachmacht, sagt Derden zu mir, wo ist sie jetzt? Sie fährt oft weg, dann kommt sie mit dem Taxi zurück. Sie schreibt Bücher und liest daraus vor. Das bin ich, immer dieselbe, rufe ich."
Als sie ihn kennenlernte war er ihr Dozent, sie Psychologiestudentin und die DDR noch jung. Jetzt kümmert sie sich um die acht Morgen-Tabletten. Sie schreibt, durchaus humorvoll, über die Nebenwirkungen: Ohnmacht, Herzinfarkt, Gelbsucht.
"Und es hilft ihm zu leben", so knapp kommentiert sie die Verheißungen. Hierher nach Nordwestmecklenburg zogen sie erst 2008. Sie wollte nie hier wohnen, ersehnt seit Jahren die Großstadt.
Helga Schubert, Schriftstellerin
"Eigentlich war das von mir ein Nachgeben. Ihm nachgeben, dass wir hierher sind. Er selbst stammt aus einer Kleinstadt im jetzigen Polen, aus Bobersberg. Ich stamme aus Berlin, war da immer. Aber das wäre doch hier so eine schöne Landschaft und die Luft und die Menschen sind ein bisschen weiter weg. Dann habe ich gedacht: gut, mein Leben ist eigentlich zu Ende, also mein berufliches Leben ist zu Ende, zu schreiben. Dann habe ich auch aufgehört zu veröffentlichen, und dann habe ich mich hier der Sache gewidmet."
Über 1000 Bilder hat Derden gemalt. In der umgewidmeten Garage gab es 130 Ausstellungen. Sie schrieb immer eine Erzählung dazu. Ihr Buch "Der heutige Tag" ist keine geradlinige Beschreibung der Pflegesituation. Der Text mäandert, freut sie sich: Die Stasiunterlagen haben sie sich einst gemeinsam angesehen und gelacht: Er wäre ihr treu und dadurch nicht zu erpressen, sie zu bespitzeln. Der Text springt vom Heute ins Kennenlernen, ins Gestern. Einmal will er ihr in den Mantel helfen.
Zitat aus "Der heutige Tag"
"Ich ließ es zu und bemerkte, dass er, ohne mich zu berühren, die Arme um mich legte, mich gleichsam mit meinem Mantel einhüllte. Wortlos ohne Zudringlichkeit. Da war in Berlin schon die Mauer gebaut, er hatte zwei kleine Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und ich einen kleinen Sohn."
Helga Schubert, Schriftstellerin
"Die Rücksprünge sind, um diese Partnerbeziehung nicht als Märtyrerdasein darzustellen, sondern in der Gesamtheit, weil das ja alles dazugehört. Man macht es doch deshalb, weil man denjenigen liebt. Ich weiß ja gar nicht, wie ich mich verhalten würde, wenn ich ihn nicht lieben würde."
Er träumt, er klopft, weckt sie. Ist das Babyphone an? Sie hilft ihm auf, wenn er umkippt. Er friert im Freien, sie rollen nicht mehr raus. So ist der Tag. Man fragt sich, wieviel von einem selbst dabei bleibt, bleiben kann, bei dieser Schwerstarbeit. Könnte man das auch? Lakonisch, immer am Nebensatz vorbei, schreibt Helga Schubert kein Hohelied auf die Selbstaufgabe, man ist kein Opfer wenn man pflegt, es ist eine Selbstbefragung.
Helga Schubert, Schriftstellerin
"Diese Beziehung zu meinem Mann, die ja nun schon über ein halbes Jahrhundert geht, täglich sind wir zusammen. Das ist… er ist für mich Heimat. Wir haben schon darüber gesprochen, und er fragt mich auch: Was wird denn sein, wenn ich tot bin? Sagt er. Und dann denke ich. Dann ist er immer noch da. - Und das wäre dann Heimat."
"Ein Stundenbuch der Liebe" - so der Untertitel des Buches, das man getrost als literarisches Tagebuch lesen kann. Sie möchte das einordnen, Pflegebedürftigkeit. Jedem kann es passieren, ihr, mir oder Ihnen. Was wird einmal sein und wie? Diesen Fragen geht Helga Schubert nach, wenn sie über das vorerst letzte Bild schreibt.
Helga Schubert, Schriftstellerin
"2022 hat er ein Bild gemalt, wo er ab und zu mal hin gerollt ist, und gedacht hat, das ist eigentlich, bestimmt, mein letztes Bild und guckte es so an. Dann ist er wieder weggerollt. Und das ist für mich so rührend, weil ich ja vom ersten Bild bis zu diesem vorerst letzten immer dabei war. Bei jedem Bild war ich dabei. Und es ist so ein Erlöschen der Kreativität zu sehen. … Ich will immer das nicht als tragisch empfinden. Ich möchte das als so einen Lebenslauf empfinden, als ein Verwelken."
Zitat aus "Der heutige Tag"
"Wenn ich Erbarmen mit Derden habe, dann ist die Traurigkeit weich. Und manchmal weine ich um uns beide. Wie schön wäre jetzt ein Spaziergang."
Autor: Hans-Michael Marten