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Für sie war der zweite Weltkrieg am 8. Mai 45 noch nicht vorbei: Kinder der Flucht. Verlaust, hungernd campierten sie unter freiem Himmel in den Trümmern der Großstädte oder entlang der Bahnlinien. Manche verloren ihre Eltern, manche entkamen selbst nur knapp dem Tod. Eine große Dokumentation am 08.05. im Ersten erzählt nun die Geschichte von Flucht und Vertreibung aus der Sicht der Jüngsten.
Viele Deutsche sind auf der Flucht vor der heranrückenden sowjetischen Armee. Wieviele Kinder in den Trecks der Geflüchteten und Vertriebenen sind, ist nicht bekannt. Einige von ihnen erzählen in dieser neuen ARD-Dokumentation, was sie erlebt haben.
Jürgen Möhlmann
"Geflüchtet sind wir an meinem neunten Geburtstag, am 5. März. Das weiß ich noch. Die Torte stand auf dem Tisch, aber wir haben sie nicht mehr zu essen gekriegt."
Im Herbst 1944 erreicht die sowjetische Armee die Grenzen des damaligen deutschen Reiches: Ostpreussen. Erst im letzten Moment erlauben die NS-Machthaber die Flucht.
Dietrich Weichler
"Ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe das nicht empfunden als kleiner Junge, dass man auf andere Rücksicht nahm, sondern nur sich selbst sah. Nur ich bin selbst da."
Der direkte Landweg nach Westen ist bereits versperrt. Das zugefrorene Kurische Haff, heute zwischen Litauen und dem Kalingrader Gebiet gelegen, wird zur letzten Hoffnung, um zur Ostsee zu gelangen und von dort evakuiert zu werden. Johanna Rüger ist 10 Jahre alt, als ihre Flucht beginnt.
Johanna Rüger
"Dann haben wir uns aber eine Woche müssen auf der Ostsee rumtreiben, da oben auf dem Deck. Man muss sich das ja mal vorstellen: Ende Januar, die Eisschollen, die schwammen da so. Da war eine Frau, die hatte zwei Jungs, die schrien so, die haben so gefroren und die hatten, die hatten gar nichts weiter, die hatten bloß das, was sie auf der Haut hatten. Und die Frau, die verlor die Nerven. Was ich schon gesehen habe im Leben, um Himmels willen. Dann haben die, die Jungs, schmiss die über über die Reling ins Wasser und sprang hinterher."
Am 9. April 1945 marschiert die sowjetische Armee in Königsberg ein. Hier lebt die damals neunjährige Ursula Buttgereit mit ihrer Mutter und vier Geschwistern. Der Vater ist bereits 1939 als Soldat im Krieg "gefallen". Die Mutter will die Stadt nicht verlassen.
Ursula Dorn
"Nachts mit Stabslampen beleuchtet kamen sie in die Nacht rein und haben die alle rausgeholt die Frauen. Die mussten dann in einen anderen Raum. Und dann haben wir das erlebt, wie das da klingt, wenn die in geschlossenen Räumen... da waren diese Schreie. Ich hab die russischen Soldaten hintereinander stehen sehen. Hintereinander. Das war nicht Lust, Das war gewollt. Demütigung. Erniedrigung. Das nimmt man mit. Ich habe jeden Jungen gehasst. Alles, was männlich war, habe ich gehasst. Bis lange Zeit."
Mit dem Einmarsch in Polen 1939 begann der deutsche Vernichtungskrieg im Osten. Er kommt auch nach Bydgoszcz, wo Alodia Witazsek lebt. Ihr Vater, ein Widerstandskämpfer, wird im Januar 1943 hingerichtet. Die Familie getrennt. Dass Alodia Witazsek überlebt verdankt sie ihren blonden Haaren und blaue Augen. Nach einer langen Odyssee durch Lager und Kinderheime kommt sie mit sechs Jahren nach Deutschland, in ein Heim der SS-Organisation "Lebensborn". Weil sie dem nationalsozialistischen Rasseideal entspricht, bekommt sie schließlich eine neue Mutter und eine neue Heimat in Stendal im heutigen Sachsen-Anhalt.
Alodia Witaszek
"Mutti hat mich eigentlich sofort als ihr eigenes Kind empfangen, als Geschenk von Hitler. Mutti konnte keine eigenen Kinder bekommen und hatte keine. Sie wollte ihre Tochter ihr Leben lang behalten. Da war ich, Alice Dahl."
Die Kinder, die den Krieg überlebten, sind heute Großmütter und Großväter. Lange haben sie geschwiegen, um zu vergessen. Doch die Erinnerungen an ihre Kindheit sind geblieben.
Im Winter 1945 war Dietrich Weichler mit seiner Familie aus Ostpreußen geflüchtet. Heute lebt er in Schleswig-Holstein. Das Dorf Gallinden, in dem er aufwuchs, heißt jetzt Gledy und liegt in Polen.
Dietrich Weichler
"Das 27. Mal bin ich hier! Dann können Sie ja vorstellen, was, wie mir zumute ist. Wie ich dieses liebe hier. Wie ich das hier liebe. Das muss, das sieht man doch, oder? Wer so viel in seine Heimat fährt. Ich würde alles für meine Heimat tun. Auch noch in meinem Alter."
Autor: Lutz Pehnert