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Tausende stürmen am 15.01.90 die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße. Es sollt eine Ermächtigung der Bürger über den Spitzelstaat sein. Die Demonstranten wollen verhindern, dass die Täter weiter ihre Spuren schreddern. Erreicht wurde nicht viel, vernichtet wurde weiter. Wie denken Zeitzeugen heute über ihre Hoffnungen damals und den schwierigen Umgang mit der Wahrheit danach?
"Macht das Tor auf, macht das Tor auf…"
35 Jahre ist das her, an einem Montag im Januar, gegen 17 Uhr. Die Stasizentrale in der Normannenstraße wird besetzt. "Horch und Guck" arbeitet hier, streng abgeriegelt, fast 40 Jahre lang. Einiges geht zu Bruch, an diesem Tag – der Historiker Stefan Wolle ist dabei, als die Berliner sich der Zentrale bemächtigten.
Stefan Wolle, Historiker
"Um 17 Uhr ging das los, und als ich kam, war schon mächtig Bambule, wie man in Berlin sagt. Also, hier riefen alle Stasi raus, Stasi in die Produktion. Und hier wurde so n kleines Mäuerchen errichtet – sollte nur symbolisch sein. Aber denn öffnete sich das Tor, ziemlich überraschend, dann gab’s so ne kleine Schrecksekunde. Da wusste man nicht, was passiert nun. Stehen die da mit Maschinengewehren? Es wusste ja keiner was passsiert…"
Tausende ziehen auf das Gelände. Fensterscheiben zerbrechen – oder war DAS die Stasi selbst? Doch angesichts dessen, was hätte passieren können, ist es verhältnismäßig friedlich.
Sven Behrend, Leiter des Stasimuseums
"Wenn man sich vor Augen hält, welche Abscheu, welche Wut, welcher Ärger auf die Staatssicherheit sich über Jahrzehnte angestaut hatte und jetzt ist also der Moment gekommen, wo man also in die Drachenburg vordringt, wo man rein kann, an den Arbeitsplatz der Mitarbeiter der Staatssicherheit, dann ist vor dem Hintergrund dessen, was denkbar wäre an Aktionen doch eher zünftig, volkstümlich."
Die gestürmte und verwüstete Stasizentrale, eine Erzählung, die der SED in der Wendezeit gut ins Konzept passt.
Stefan Wolle, Historiker
"Es ist zu vermuten, dass es durchaus in die Absichten der Partei gepasst hat, dass Menschen Angst bekommen. Dass ein Bild gezeichnet werden sollte in der Öffentlichkeit, dass mit der neuen Zeit – Egon Krenz hatte es die "Wende" genannt - Gefahr kommt. Chaos, Zerstörung. Das, was die Menschen in jahrelanger harter Arbeit aufgebaut haben, wird jetzt zerstört."
Am Runden Tisch wird am 15. Januar noch über die Stasi gesprochen – und ihre Bewaffnung geschildert.
Runder Tisch, 15.1.1990
"Maschinenpistolen: 76.592"
"Gewehre: 3.611"
Martin Montag aus Meiningen ist an diesem Tag schon früh mit einem Bürgerkomitee in der Stasizentrale, zwecks geordneter Besetzung – die Demonstration, die sich draußen ansammelt, empfindet er eher als fragwürdig.
Martin Montag, Bürgerrechtler
"Es wäre sinnvoller gewesen, wenn man sich hier in Berlin dem Bürgerkomitee angeschlossen hätte, das ja schon die Bezirksverwaltung besetzt hatte, auch schon im Dezember, aber das ist nicht passiert. Also, in Berlin könnte es sein, man demonstriert lieber, aber arbeiten eher nicht."
Aber dennoch: Martin Montag hatte schon in Suhl die Stasizentrale mit aufgelöst. Dass er hier heute hier durch das Büro des Hauptverantwortlichen Erich Mielke spazieren kann – ist für ihn immer noch ein Phänomen.
Martin Montag, Bürgerrechtler
"Wir hätten es noch Anfang, Mitte 89´ nie für möglich gehalten, irgendwann einmal auch nur einen Fuß in die Tür von dieser oder jener Behörde zu setzen. Dass das möglich war, überhaupt, das grenzt für mich schon an ein kleines Wunder. Aber es hat deutlich gemacht: eigentlich war die Stasi schon erstickt, an ihrer eigenen Papierflut. Sie war schon tot."
Und die Akten? Stefan Wolle forscht hier bald nach der Besetzung in den Archiven – und arbeitet dafür mit Stasi-Mitarbeitern zusammen – ohne sie geht es halt nicht.
Stefan Wolle, Historiker
"Wir brauchten die Leute einfach, denn die wussten, wo die entsprechenden Akten liegen, die hatten auch die Schlüssel in der Hand. Das Archiv wurde weiter betrieben, das wurde später sehr scharf kritisiert aber es wäre damals gar nicht anders möglich gewesen."
Wieviele Akten vor und auch nach der Besetzung der Stasizentrale noch verschwinden ist nicht zu beziffern.
Archivausschnitt 1990, Thomas Heise - Runder Tisch
"Die Befehle sind schon gelaufen, es ist also raus, es wird nichts vernichtet. Du kommst hin und der Häcksler, der die Akten vernichtet, der ist kochend warm, weil er gerade den Stecker rausgezogen hat."
Mit dem 15. Januar sind die Akten der Stasi noch lange nicht gesichert.
Sven Behrend, Leiter des Stasimuseums
"Man muss aufpassen, dass man da nicht einem Mythos erliegt. Wir reden über viele, viele, viele Kilometer Stasiakten, die weg sind, mit Zustimmung des Runden Tisches. Wir reden über eine unbekannte Anzahl von Stasiakten, die im Verlaufe des Jahres verkollert wurden, unter den Augen des Runden Tisches. Es fehlen alle elektronischen Datenträger, mit wenigen Ausnahmen, wurden auch mit Zustimmung damals geschreddert."
Die Stasiunterlagen, die übrig geblieben sind, haben inzwischen drei Millionen Nutzer in den Archiven eingesehen – Dokumente nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft.
Stefan Wolle, Historiker
"Es war ein wirklich großer Sieg der Bürgerbewegung. Es war der symbolische Akt, dass was passiert im Lande, was nicht mehr umkehrbar ist."
Sven Behrend, Leiter des Stasimuseums
"Ich habe das damals so wahrgenommen, als wenn die Luft etwas besser wurde, als ob man etwas besser atmen konnte."
Martin Montag, Bürgerrechtler
"Das wollen wir nie wieder. Und deshalb lohnt es sich mit aller Energie, für Freiheit und Demokratie einzutreten."
Autor: Steffen Prell