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Es sind Kunstwerke von unschätzbarem Wert. Der sogenannte Welfenschatz gehört zu den bedeutendsten Kirchenschätzen des Mittelalters. Man kann ihn in der Gemäldegalerie in Berlin bewundern. Ob er hier zu Recht steht, ob es sich beim Welfenschatz nicht um Nazi-Raubkunst handelt, darüber wird schon lange gestritten. In der Nazizeit wurde der Welfenschatz von einem Konsortium aus jüdischen Eigentümern an den preußischen Staat verkauft. 2014 entschied die Beratende Kommission, dass es keine Raubkunst sei. Jetzt sind Dokumente aufgetaucht, die neue Zweifel wecken, wie freiwillig dieser Verkauf war.
Mit irdischen Maßstäben ist dieser Kirchenschatz aus dem Hochmittelalter eigentlich nicht zu messen. Armreliquien, Plenare und Bildnisse von Heiligen – fein gepunzt in Gold und Silber, besetzt mit Perlmutt, Bergkristallen und Elfenbein. Gefertigt quasi in den Werkstätten des Herrn.
Und heute? Da wissen wir, die 44 Stücke sind eine Viertel Milliarde Euro wert. Aber es steht ein großer Elefant im Raum, nämlich die Frage, ob die Eigentümerin des Welfenschatzes tatsächlich die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist oder ob es sich um Nazi-Raubkunst handelt.
Ein kurzer Blick zurück: Die Kommission für Nazi-Raubkunst verkündet im März 2014, dass der Welfenschatz 1935 ganz legal und ohne Repressalien von der Nazi-Regierung in Preußen, unter Kunstnarr Hermann Göring, gekauft wurde. Also keine Raubkunst. Ein jahrelanger Streit endet. Für Stiftungspräsident Parzinger ist der Fall abgeschlossen.
Hermann Parzinger, Präsident Stiftung Preußischer Kulturbesitz
"Wir freuen uns natürlich, dass wir für die Berliner Museen, für die Öffentlichkeit, einen der bedeutendsten Kirchenschätze, mittelalterlichen Kirchenschätze Deutschlands, ja Mitteleuropas, erhalten können."
Aber es gibt neue Erkenntnisse, die uns der Berliner Rechtsanwalt Jörg Rosbach hier erstmals zeigt. Er hat im Hessischen Staatsarchiv recherchieren lassen und stieß auf diesen Reichsfluchtsteuerbescheid vom 8. Oktober 1935 über mehr als 1 Mio. Reichsmark. Diesen Betrag musste die Jüdin Alice Koch zahlen, um aus Deutschland fliehen zu können. Und Alice Koch gehörten 25% des Welfenschatzes.
Jörg Rosbach, Rechtsanwalt
"Und es hat sich herausgestellt, dass dieses Geld aus dem Verkauf des Welfenschatzes stammt. Und das war für uns eine komplett neue Information, die auch vorher keiner hatte."
Und ein zweites, bislang unbekanntes Dokument fand sich im Archiv. Bereits 4 Tage nach dem Steuerbescheid, am 12. Oktober hatte Alice Koch den Millionenbetrag gezahlt und erhielt diese Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamtes. Sie hatte es also sehr eilig, aus Nazideutschland Richtung Schweiz zu fliehen.
Jörg Rosbach, Rechtsanwalt
"Die Reichsfluchtsteuer war ein Instrument, um von jüdischen Mitbürgern, die ausreisen wollten das Vermögen abzuschöpfen. Ohne Zahlung der Reichsfluchtsteuer gab’s keine steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung, ohne steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung gab’s keine Ausreisegenehmigung."
Mit diesem Schreiben vom 28. April ’22 legte Rosbach der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die neuen Dokumente vor. Er bat um eine faire und gerechte Entschädigung. Aber bis heute – so erklärt uns Rosbach – ist die SPK mit keinem Wort konkret auf diese neuen Dokumente eingegangen.
Uns gegenüber erklärt der SPK-Präsident Hermann Parzinger allerdings, dass er die neue Lage ernst nimmt und mit den Erben von Alice Koch reden will.
Hermann Parzinger, Präsident Stiftung Preußischer Kulturbesitz
"Und natürlich jetzt mit der Reichsfluchtsteuer, mit diesem Hinweis muss man dann mit den Erben und den Anspruchstellern noch mal genau sprechen und ins Gespräch eintreten. Wie verhält sich das? Kann man das nachweisen? Wenn nachweislich ist, dass es direkt mit dem Welfenschatz in Zusammenhang steht, dann müssen wir natürlich entsprechende Konsequenzen ziehen, was den Anteil von Alice Koch betrifft."
Aber diese Gespräche mit den Erben von Alice Koch hätte die SPK seit Jahren führen können. Indem sie den Fall der Beratenden Kommission für Raubkunst übergibt – die genau solche Streitfälle prüft und eine Empfehlung ausspricht. Aber die SPK tut dies nicht. Sie will - so erklärt sie seit fast 3 Jahren mit immer neuen Schreiben – erstmal feststellen, ob dieser Fall für die Raubkunst-Kommission überhaupt zulässig ist.
Vorsitzender der Raubkunst-Kommission ist der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier. Er hat kein Verständnis für die Verschleppung des Falls und erklärt auf Nachfrage.
Hans-Jürgen Papier, Vorsitzender der Raubkunst-Kommission
"Die SPK ist (...) dazu verpflichtet, einer Anrufung der Kommission unverzüglich zuzustimmen. Die Prüfung der Zulässigkeit ist allein Sache der Kommission."
Und schließlich sieht auch der international bekannte Kunstfahnder Willi Korte, dass sich die SPK der Raubkunst-Kommission sofort stellen und der Fall Welfenschatz neu aufgerollt werden muss.
Willi Korte, Jurist / Kunstfahnder
"Eine deutsche Jüdin, die 1935/36 Reichsfluchtsteuer gezahlt hat, war ganz offensichtlich Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, anders kann man das nicht interpretieren. Das heißt also, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist verpflichtet, unverzüglich zuzustimmen, wenn ein entsprechender Antrag vorliegt, mit diesem Fall vor die Beratende Kommission zu gehen."
Alice Koch war nicht die einzige jüdische Anteilseignerin des Welfenschatzes. Aber die neuen Dokumente zu ihrem Fall sind von erdrückender Brisanz. Weitere Anwälte von einstigen Welfenschatz-Besitzern klopfen an bei der SPK. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz sollte mit ihnen allen endlich nach einer Lösung suchen.
Autor: Ulf Kalkreuth