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Clärchens Ballhaus in der Auguststraße ist seit 111 Jahren eine Institution in Berlin. Die Geschichte und die Geschichten rund um diesen traditionsreichen Tanzpalast dokumentiert seit vielen Jahren Marion Kiesow. Sie ist das Kontinuum in Zeiten der Veränderung. Denn das Ballhaus ist modernisiert worden. Revolutionär: Die Tanzfläche ist jetzt in den Spiegelsaal im ersten Stock gezogen, im Erdgeschoss ist ein neues Restaurant, dass der Babylon Berlin-Ausstatter Uli Hanisch gestaltet hat. Mit Marion Kiesow tauchen wir in die zahllosen Nächte des Ballhauses ein, quer durch vier politische Systeme.
Bier getrunken wurde in Clärchens Ballhaus schon immer. Aber deshalb kam man nicht her. In Clärchens Ballhaus ging man wegen dieses Zaubers:
Dass hier alles so ist, wie früher mal war. Das war früher schon so. Und später immer noch.
Marion Kiesow betrat das bröckelige Haus das erste Mal 2005 – und begegnete wie Generationen vor ihr: Günther Schmidtke, dem Mann an der Garderobe. In Clärchens Diensten seit 1967.
Marion Kiesow
"Günter hat mich auch gleich so auf dem Kieker gehabt."
- "Na, Engelchen, was willst du?"
"Und nach dieser Sonderbehandlung von Günter dreh dir mal, siehst jut aus, bin ich dann in den Saal, aber am Arm von Klaus Schliebs vom Saalchef. Und sowas hatte ich eigentlich noch nie erlebt in meinem Leben, dass ich irgendwo zum Tanzen gehe und mich hakt jemand unter und begleitet mich zu meinem Tisch. Und dann saß ich in diesem Saal und habe gedacht, seit wann gibt es das hier? Ich hatte auch das Gefühl, hier tanzen ja noch die Generationen vor mir, die sehe ich ja quasi noch. Und dann war es um mich geschehen, obwohl Günter mir ja gesagt hat, ich soll mich nicht verlieben und ich soll aufpassen. Das sind nicht alles nur Märchenprinzen."
Natürlich verliebt sie sich trotzdem – ins Haus. Marion Kiesow kam immer wieder. Lernte Günther und die anderen kennen. Fing an, die Geschichte ihres Hauses zu erforschen. Eines Hauses, in dem die Geschichte dieser Stadt steckt. Mindestens. Daraus wurde ein wunderbares Buch.
Marion Kiesow
"Ich habe diesen Ort immer als ein Ort der Geschichte empfunden. Also der lag ja nun auch so oder liegt mitten in der Stadt und hier hat sich ja alles abgespielt. Und ich hatte mal einen Film gesehen, Le Bal, da war die ganze Handlung nur in einem Ballsaal. Die ganze Geschichte spielte sich dort ab. Also egal was passiert ist, es wurde bombardiert. Die Menschen kamen wieder zum Tanzen. Hier ist es genauso. Das ist der Tanzboden der Geschichte."
Die Geschichte von Clärchens Ballhaus beginnt 1913, im Kaiserreich.
Clärchen, eigentlich Clara, kam aus der Lausitzer Provinz nach Berlin, hat als Kalt-Mamsell angefangen, geheiratet und ist nun Ballhaus-Chefin. Das Haus gehört ihrem doppelt so alten Mann, aber sie schmeißt den Laden. Von Anfang an.
Marion Kiesow
"Die hat die Hosen an, ja, die hatte das Sagen und der Ehemann war so, nachdem was ich so gehört habe, immer eher im Hintergrund. Das hieß natürlich Bühlers Ballhaus hier, das stand außen groß dran, aber das hat ja nie irgendjemand gesagt. Also man ging immer zu Clärchen."
"Das Tanzen mochte sie nicht so. Sie war, was hat Günter gesagt, streng, aber gerecht war sie. Eine richtige Preußin. Sie hat für Ordnung gesorgt. Und das war auch nötig in so einem Betrieb hier. Da waren ja einige Hallodris auch unterwegs."
Hallodris und die Begierden der Nacht: Auch so lässt sich die Geschichte von Clärchens Ballhaus zusammenfassen.
1914 wäre sie fast zu Ende gewesen, bevor sie richtig begonnen hat. Der erste Weltkrieg beginnt. Die Männer müssen an die Front.
Viele kehren nicht zurück. Ohne Männer aber dürfen Frauen nicht zum Ball. Schlecht fürs Ballhaus. Clärchen muss sich was einfallen lassen. Sie lockt die Frauen erstmal zu Kaffee und Kuchen ins Haus. Und hat eine Idee.
Marion Kiesow
"Dann haben die die Witwenbälle eingeführt. Ein Witwenball ist ein Ball, auf den eine Frau ohne männliche Begleitung gehen kann. Und dann gab es auch immer die Damenwahl, die war sehr beliebt und die war so beliebt, dass Clärchen irgendwann ein eigenes Format draus gemacht hat, das man ja auch von woanders her kannte, nämlich den sogenannten "verkehrten Ball". Die Männer, die hierher gingen, die mussten schon auch ziemlich mutig sein. Die Frauen haben sich teilweise um die besten Exemplare geprügelt."
Der Krieg ist vorbei, der Kaiser weg. Harte Zeiten, wilde Nächte. Tanzfieber in Berlin. In Clärchens Ballhaus feiert das Volk - nicht mit Schampus und Kokain, sondern mit Molle und Sekt. So wird es bleiben. Außer, draußen ist Krieg und die Nazis verhängen ein Tanzverbot.
Das Vorderhaus fällt Anfang ‘45 einem Bombentreffer zum Opfer. Doch 67 Tage nach Kriegsende wird bei Clärchen schon wieder geschwooft. Auch in der DDR bleibt ihr Ballhaus in Privatbesitz. Die Löcher im Tanz-Parkett stopfen sie jetzt mit Wachs, wenn‘s nichts anderes gibt. Doch es bleibt ein Ort für Sehnsüchte aller Art.
Marion Kiesow
"Da gab es ja dann auch Liebschaften, die dann nur eine Nacht oder bis zur nächsten Straßenecke gehalten haben. Also es war hier ein ganz schöner Umschlagmarkt. So ein bisschen dunkel undurchsichtig. Ganz so schlimm habe ich es nicht mehr erlebt."
Clärchens Ballhaus hat alles erlebt. In den letzten 20 Jahren auch mehrere Besitzerwechsel. Getanzt wird heute nicht mehr zwischen den Tischen im Restaurant, sondern oben im Spiegelsaal. Die ganz wilde Anarchie von früher ist weg. Aber dieser alten Zauber, der will einfach nicht weichen.
Marion Kiesow
"Ich denke auch, dass es hier noch so ein Ballhausgeist gibt und der wird wahrscheinlich auch verhindern auf ewige Zeiten, dass hier ganz grundsätzlich was abgerissen wird. Es gibt ja diesen Spruch Berlin ist immer im Werden und nie im Sein. Und Clärchen ist halt wirklich immer noch an diesem Ort und verändert sich natürlich hier auch. Aber es ist immer noch da."
Autor: Tim Evers