
-
Der deutsch-armenisch-türkische Musiker, Komponist und Autor Marc Sinan hat zum 8. Mai ein Friedensoratorium komponiert: "BEFREIUNG" für Orchester, Solisten, Chöre und Laiensänger. Es wird in Berlin, Hamburg und Augsburg aufgeführt. Marc Sinan lebt in Berlin und beschäftigt sich auch wegen seiner Familiengeschichte mit Traumata, Wut, Vergeltung, sowie Urteil und Gerechtigkeit in der Kunst.
Irgendwie kommt Marc Sinan nicht weg davon: Seine Musik, all seine Kompositionen haben ein großes Thema: die Traumata seiner deutsch-türkisch und armenischen Familie: geprägt von Krieg, Verrat, Verfolgung, Genozid. Und von Verdrängung.
Welche Folgen dieses Verdrängen hat, erlebt er ganz persönlich.
Marc Sinan, Komponist
"Ich würde wirklich ganz konkret sagen, dass sich das ganz stark auf die psychische und physische Gesundheit meiner Cousins und Cousinen und mir selber auswirkt. Der Anteil an depressiv verstimmten oder Menschen, die sozusagen einfach eine große, unbewältigte Wut in sich tragen, ist in meiner Familie sehr groß."
Die unbewältigte Wut hat mit dem Schicksal der Oma zu tun. Als kleines Mädchen überlebt sie 1915 den Genozid an den Armeniern in ihrem türkischen Dorf.
Marc Sinan, Komponist
"Das ist meine Oma und mein Onkel."
Zeitlebens muss sie verheimlichen, dass sie Armenierin ist. Der Völkermord wird in der Türkei geleugnet.
Marc Sinan, Komponist
"In meiner Großfamilie, und das sind wirklich über ein Dutzend Cousins und Cousinen, bin ich der Einzige, der sich überhaupt mit dieser Frage beschäftigt."
Marc Sinan hat auch einen Roman geschrieben, wie er als kleiner blonder Junge aufwächst in dieser Familie: in den Ferien in der Türkei und zuhause in München. Wie er ringt, mit einem dunklen, ungreifbaren Etwas, seiner Wut und seiner Musik. Und wie ihn das verdrängte Schicksal der Oma geprägt hat.
Marc Sinan, Komponist
"Ich glaube, ich habe so eine Art Arbeitswut, die sicherlich auch damit zu tun hat, dass ein Kind, das einen Genozid überlebt, halt auch weiß, sozusagen, dass z.B. Fleiß dazu beiträgt, dass man eben angenommen wird in der Gesellschaft, die einem feindlich gegenübersteht."
Und da ist noch dieser Bruch in seiner deutschen Familie: zwischen seiner Tante Helga und dem Großvater: Helga hat als Mädchen für Hitler geschwärmt und wollte dem Bund Deutscher Mädchen beitreten.
Marc Sinan, Komponist
"Mein Großvater war Sozialdemokrat und hat, so wird es erzählt, gemeinsam mit einem Freund eine jüdische Familie versteckt und mit Lebensmittelmarken versorgt. Und eines Tages sagte sie zu meinem Großvater, wenn du mich nicht zum BDM lässt, dann verrate ich dich bei der Gestapo. Woraufhin er sie wohl massiv geschlagen hat. Und dieser Riss ist sozusagen nie wieder zu kitten gewesen."
All das schwingt nun mit in seiner Musik: die Wunden europäischer Geschichte. Auch in seiner Soundinstallation zum Jahrestag der BEFREIUNG. Zu hören: zehn Geschichten vom Kriegsende – zum Beispiel wie ein Mädchen aus Demmin einen Gruppen-Suizid überlebt. Die Dorf-Frauen wollten sich und die Kinder aus Angst vor der näherrückenden Sowjetarmee umbringen.
"Und nachher wurden mit einem Mal da Rasierklingen verteilt. Und ich mein, wir haben nicht einmal gewusst, wie man überhaupt die Pulsadern aufschneiden soll."
Marc Sinan, Komponist
"Und in diesem einen speziellen Fall von Brigitte Rossow, einer Überlebenden dieser Massensuizide aus Demmin, ist es eine Geschichte, wie die Tochter eines Täters selber sozusagen zum Opfer dieses Krieges wird, die eben so besonders ambivalent ist aus meiner Sicht."
All die Erlebnisse von Jüdinnen und Juden, von einer Sintezza und einer polnischen Partisanin erklingen aus einer Art Tunnelsystem auf dem Pariser Platz. Die Geschichten dieser Zeitzeugen verwendet Marc Sinan auch in seinem Befreiungs-Oratorium, das nun deutschlandweit aufgeführt wird.
Zu hören auch der Bericht von drei jüdischen Schwestern, die gegen die Nazis kämpften.
"… und dann kamen Leute und sagten: identifiziert euren Vater. Er ist tot."
Marc Sinan, Komponist
"Es ist die Geschichte von Sarah Weinstein, wie sie eigentlich den Krieg im Wald überlebt hat mit den Partisanen und ihr Vater nach Ende des Krieges ermordet wird und sie mit ihren zwei Schwestern alleine zurückbleibt. Ich glaube, die Gewalt der Geschichte wird klar durch die Musik."
Sein Oratorium zur Befreiung: Eine Befreiung, die kein "Happy End" war. Die Erinnerung daran bleibt harte Arbeit, für Marc Sinan – für ganz Europa.
Marc Sinan, Komponist
"Es ist quasi scheinbar ganz viel bewältigt, aber eben doch gar nichts oder zu wenig. Sonst würde uns das alles nicht passieren. Wir würden ja nicht in diese merkwürdigen Muster zurückfallen: Ja, mit Krieg zündeln, aber auch mit Nationalismus zündeln, mit Rassismus zündeln."
Autorin: Petra Dorrmann