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An was sollen wir uns erinnern, wenn wir an das Kriegsende denken? An die "Großen Drei", Truman, Stalin und Churchill, wie sie in Potsdam die neue Weltordnung festlegen? Oder an die Berliner Hausfrau Else Tietze, die um das Leben ihres Sohnes bangt? Der Berliner Historiker Oliver Hilmes will beides. In seinem Buch "Ein Ende und ein Anfang" erzählt er, wie ganz unterschiedliche Menschen den Sommer 1945 erleben. Sieger wie Besiegte, Opfer wie Täter, Prominente wie Unbekannte.
Sie sind – davongekommen. Sie haben überlebt. Manche ausgebombt, andere schon wieder in Promenier-Laune. Berlin im Sommer 45. Eine Ruinenlandschaft. Hitler ist tot. Ist er wirklich tot? Gerüchte geistern umher. Und überhaupt: "Der hat schon Gutes gewollt, aber zuletzt muss er wahnsinnig gewesen sein." Flüchtlinge suchen eine neue Heimat, Kinder ihre Eltern. Und alle irgendwie eine Zukunft. Eine Zeit zwischen Ende und Anfang.
Oliver Hilmes, Autor
"Ein Regime hat aufgehört zu existieren, das Dritte Reich, aber das Neue war noch nicht auf der Spur. Und das ist natürlich unglaublich spannend zu beobachten, wie die Menschen wieder ihr Leben versuchen vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wie so etwas ganz langsam wie Alltag wieder Einkehr hält. Wie die ersten Kinos wieder öffnen, wie die ersten Straßenbahnen wieder fahren."
"Wie kann so ein Neuanfang gelingen nach all dem, was eben auch gerade hier in Berlin passiert ist?"
Davon erzählt Oliver Hilmes in seinem Buch: Nicht nur vom Großen, von Generalfeldmarschall Keitel, der die Kapitulation des Dritten Reichs mit seiner Unterschrift besiegelt. Sondern auch davon, was danach passiert, da draußen. So ist Oliver Hilmes auf das Tagebuch einer 70-jährigen Berlinerin gestoßen, Else Tietze aus Steglitz. Sah sie vielleicht so aus? Am 31. Mai macht sich die Witwe mit Thermoskanne und Marmeladenbrot zu Fuß auf den Weg nach Mitte. Sie sucht nach Freunden – doch auch von ihren Kindern fehlt schon lange jede Nachricht.
Oliver Hilmes, Autor
"Das lag ihr sehr auf der Seele, nicht zu wissen, was aus den Kindern geworden ist. Und zum allerersten Mal in ihrem Leben führt Frau Tietze jetzt ein Tagebuch im Frühjahr und im Sommer 1945. Das heißt, sie greift zu Papier und Stift und schreibt jeden Tag das auf, was ihr passiert ist, was sie beobachtet hat, was sie mitansehen musste. Ganz alltägliche Beobachtungen. Sie wollte eben in diesem Journal ihren Kindern Rechenschaft ablegen. Und sie beschreibt dann zum Beispiel einen Moment, wo sie durch die völlig kriegszerstörte Stadt geht und dann in ihr Tagebuch schreibt: Naja, das hätte sich der Hitler doch schon noch einmal anschauen sollen, was er uns hier hinterlassen hat, was er verbrochen hat. Also man sieht schon mit der zunehmenden Zeit von Woche zu Woche eine wachsende Distanz."
Aufbruch ins Ungewisse. Ab 16.Juli wollen die drei Siegermächte in Potsdam über die Nachkriegsordnung beraten. Doch Stalin, der per Zug anreist, verspätet sich. US-Präsident Truman und der britische Premierminister Winston Churchill lassen sich derweil Berlin zeigen. Auch Hitlers Neue Reichskanzlei. Churchill steigt – zum Entsetzen seiner Leibwächter – sogar aus. Er will wissen, wie Hitler seine letzten Tage verbracht hat. Draußen in der Stadt dürfen die ersten Restaurants öffnen, Theater spielen, der Rundfunk sendet. Das US-Militär lockert das "Fraternisierungsverbot" – es war nicht mehr aufrechtzuerhalten...
Das Leben kehrt zurück. Der Dirigent und Hitler-Gegner Leo Borchardt hat bis eben noch untergetauchten Juden mit Pässen, Schlafplätzen und Lebensmittelmarken geholfen. Nun will er endlich wieder Musik machen, dirigiert das erste Konzert der Philharmoniker nach dem Krieg.
Oliver Hilmes, Autor
"Die Berliner Philharmoniker haben Leo Borchard kurz nach der Kapitulation zu ihrem künstlerischen Leiter ernannt. Das heißt, Leo Borchard stand eigentlich am Beginn einer vermutlich großen, glanzvollen Karriere mit den Berliner Philharmonikern. Und dann wird er im Umfeld einer Verkehrskontrolle versehentlich von einem amerikanischen GI erschossen."
Leben und Tod liegen immer noch eng beieinander, in diesem Sommer. Die Alliierten haben die Stadt seit Juni in Sektoren aufgeteilt, es gibt Checkpoints. Denn auch die Spaltung Berlins, Deutschlands, der Welt beginnt in diesen Wochen – und: Die Geburt des Westens, von dessen Ende wir heute so oft sprechen. In Oliver Hilmes‘ Buch wird der Sommer 45 mitunter frappierend gegenwärtig. Man geht anders durch die Stadt, nach der Lektüre. Ja, 80 Jahre ist das alles her. Aber – was sind schon 80 Jahre?
Oliver Hilmes, Autor
"Wenn man genau hinschaut, sieht man natürlich die Wunden, die der Zweite Weltkrieg in Berlin hinterlassen hat. Berlin ist ja nach wie vor eine kriegsverwundete Stadt, also bestimmte Gebäude, bestimmte Straßenführungen sind natürlich als Folge der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs erst entstanden. Man kann sich dem ja nicht entziehen."
Autor: Tim Evers