Vergessene Autorinnen wiederentdecken -
Der Debütroman "Lolly Willowes" von Sylvia T. Warner stand vor einigen Jahren nicht nur auf der Auswahl-Liste der 100 besten englischsprachigen Romane der Zeitung The Guardian, er war schon bei Erscheinen 1926 enorm erfolgreich. Die unkonventionelle englische Feministin weckte bei uns seltsamerweise nur mäßiges Interesse. Das muss sich unbedingt ändern, findet unsere Literaturexpertin Manuela Reichart, die die englische Autorin heute ins Zentrum unserer Reihe "Die Überlesenen" stellt.
Als ihr Vater starb, zog Laura Willowes nach London zu ihrem älteren Bruder und seiner Familie.
"Natürlich wirst du", sagte Caroline, "bei uns wohnen."
"Aber das bringt all eure Pläne durcheinander. Es macht doch solche Umstände. Bist du sicher, dass ihr mich haben wollt?"
"Aber, Liebste, ja."
Ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Teufel
So beginnt der Roman "Lolly Willowes" von Sylvia T. Warner, mit dem sie Mitte der 1920er Jahre berühmt wird.
Die Titelheldin, eine ledige Endzwanzigerin, wird zukünftig nur noch Tante Lolly sein, die nützliche Schwester und Schwägerin, der man weder eigene Wünsche noch Entscheidungen zutraut. Und sie wird sich das fast 20 Jahre lang gefallen lassen, bis sie sich für ein selbständiges Hexenleben entscheidet.
Am Ende des Romans führt sie ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Teufel, und er, der – in der Kunst, in der Literatur, im Kino – bekanntlich nicht hässlich und blöd, sondern attraktiv und klug ist, ist nicht zuletzt deswegen ein idealer Gesprächspartner, weil er sie ernst nimmt und ausreden lässt, ihr zuhört.
Laura Willowes ist nicht länger die liebe Tante Lolly, sondern eine souveräne Frau.
Ganz normale Frauen, die in Wahrheit Hexen sind
Nach dem großen und unerwarteten Erfolg dieses Debütromans wird die Autorin auch zum Dinner mit Virginia Woolf eingeladen. Als die elf Jahre ältere wohlwollende Kollegin Sylvia T. Warner fragt, woher sie denn so viel über Hexen wisse, antwortete sie: "Weil ich selber eine bin."
Als "Lolly Willowes" erscheint, ist Sylvia T. Warner 33 Jahre alt. Die Aufmerksamkeit gilt einer unbekannten, ein wenig verschroben wirkenden Musikwissenschaftlerin, die selbstverständlich von Hexen erzählte, genauer gesagt von ganz normalen Frauen, die in Wahrheit Hexen sind.
Schwieriges Verhältnis zur Mutter
Geboren wird Sylvia T. Warner am 6. Dezember 1893. Für ihre Mutter, die sich sehnlichst einen Sohn gewünscht hatte, ist sie eine Enttäuschung. Als aufgewecktes kleines Mädchen, erzählte Sylvia T. Warner, sei sie von ihr geliebt worden, aber je weniger sie dem Idealbild eines hübschen Teenagers entsprach, desto schwieriger wurde (und blieb) das Verhältnis zur Mutter.
Sylvia ist zu groß, zu dünn, sie trägt eine Brille, benimmt sich weder als Kind noch als Heranwachsende anmutig und mädchenhaft. Sie interessiert sich nicht für respektable Heiratskandidaten.
Beschreibungen "von der Genauigkeit chinesischer Tuschezeichnungen"
Eigentlich will sie Komposition studieren, aber der Erste Weltkrieg zerstört diese Pläne, stattdessen wird sie die schlecht bezahlte, enorm fleißige Mitherausgeberin eines wichtigen Standardwerks über Kirchenmusik in der Tudorzeit.
Sie bewegt sich – nach dem sie als Schriftstellerin reüssiert - im Umkreis der Bloomsbury Künstler-Gruppe. Der amerikanische Schriftsteller William Maxwell hat einmal über sie gesagt:
"Ihre Beschreibungen sind von der Genauigkeit chinesischer Tuschezeichnungen. Ihre ungewöhnliche Phantasie und ihr tiefes Verständnis für Menschen und Tiere machen sie zu einer der bemerkenswertesten Autorinnen ihrer Zeit."
Lebenslange Liebe zur Lyrikerin Valentine Auckland
1931 lernt sie die Lyrikerin Valentine Auckland kennen. Sie ist 13 Jahre jünger als Sylvia T. Warner und wird zur Liebe ihres Lebens.
Bis zum Tod von Valentine Auckland 1969 werden die beiden ein Paar bleiben, gemeinsam während des Zweiten Weltkriegs in die Kommunistische Partei eintreten, wo sie als lesbische Frauen nicht besonders gelitten sind und sich eine Weile der politischen Arbeit verschreiben. Sie werden reisen und reden und Gedichte schreiben.
Ein Gedicht aus dem Jahr 1938, in dem uns die Dichterin und leidenschaftliche Gärtnerin ermutigt, am Mittsommertag genau hinzuschauen auf den Garten, auf die Pflanzen, auf das Land: auf den Lehm und die Rosen und die Honigwabe: "Schau genau hin, schau gut hin, sieh, wie dein Garten wächst ..."
"Was ist der Sinn von all dem?"
Sylvia T. Warner hat sieben Romane geschrieben, acht Erzählungs- und fünf Gedichtbände, eine Proust-Übersetzung veröffentlicht, unzählige Briefe und Tagebücher hinterlassen. 144 ihrer Geschichten sind in der amerikanischen Zeitschrift New Yorker veröffentlicht worden – eine Rekordzahl, die ihr nicht zuletzt den Lebensunterhalt nach dem Zweiten Weltkrieg sicherte.
Ihre späten Geschichten spielten in einem ebenso brutal organisierten wie höchst vergnüglichen Elfenreich. Und auch hier kommen Hexen vor - wie in ihrem erfolgreichen Debütroman "Lolly Willowes".
Am 1. Mai 1978 ist Sylvia Townsend Warner in ihrem 85. Lebensjahr gestorben. Ihre letzte Äußerung soll die entscheidende Frage gewesen sein: "Was ist der Sinn von all dem? Sie behaupten, es gäbe einen."
Manuela Reichart, rbbKultur